Das Christkind mit den zerrissenen Schuhen

Im Kloster Altenhohenau südlich von Wasserburg am Inn steht seit alter Zeit auf dem Altar der Klosterkirche ein holzgeschnitztes Christkind. Es hält eine Taube in der Hand und lächelt. Weil es früher einmal Wunder getan haben soll, heißt es das Gnadenkindl.

Die Schwestern des Klosters haben ihr Christkindl immer sehr geliebt, und so kamen sie einmal auf den Gedanken, die Figur in ein prächtiges Gewand zu kleiden. Sie erwarben einen wunderschönen und kostbaren Seidenstoff, schneiderten daraus ein sehr hübsches Kleidchen und die Allergeschickteste von ihnen durfte dieses besticken.

Wenn nun das hölzerne Kind ein Kleid trug, dann brauchte es, wie die Menschen auch, Schuhe. Also zogen ihm die frommen Nonnen auch Schuhe an, freilich keine festen, lederne zum Gehen, sondern seidene, feine, mit zierlicher Stickerei. Das Jesuskind stand ja nur auf dem Altar.

Eines Morgens trat die Frau Oberin an den Altar, um eine frische Decke aufzulegen. Doch, was sah sie da? Die Seidenschuhe des Christkindes sahen an den Sohlen abgewetzt aus! Wie war sowas nur möglich ?

Die Frau Oberin befragte alle Schwestern, aber keine von ihnen wußte das Rätsel zu lösen.

Jedenfalls mußte sich Schwester Agnes, die Stickerin, umgehend daran machen, neue Schuhe zu fertigen. Während sie emsig daran arbeitete, wurden die alten Schuhe von Tag zu Tag verschlissener. Noch ehe die neuen Schuhe fertig waren, war an den alten die Naht aufgegangen.

"Wir können nicht mehr länger warten", sagte die Oberin zu Schwester Agnes. "Es geht nicht an, daß unser liebes Christkind in zerrissenen Schuhen dasteht Heut' mußt du so lange sticken, bis die neuen Schuhe fertig sind, und wenn es bis zum Morgen dauert." Schwester Agnes holte sofort ihr Kästchen mit dem Stickgarn und begann zu arbeiten. Sie durfte keine Zeit versäumen, denn zur Frühmesse sollte das Kind die neuen Schuhe tragen. So verging der Tag, und die halbe Nacht war auch schon fast um.

Um Mitternacht saß Agnes immer noch bei ihrer Kerze über die Stickerei gebeugt. Die anderen Schwestern schliefen längst. Alles war still im Haus.

Da ging weiter vorn in der Klausur eine Tür, Schwester Agnes hörte, wie sie ganz leise geöffnet und nach einer Weile ebenso leise wieder geschlossen wurde.

Agnes lauschte. Wieder hörte sie das gleiche Geräusch. Diesmal kam es von einer näheren Tür. Dann ein drittes, ein viertes Mal, immer näher zu ihr! Schwester Agnes horchte angestrengt. Jetzt vernahm sie auch Schritte. Draußen auf dem Gang ging jemand leise von Tür zu Tür. Gleich mußte er hier sein!

Agnes hatte ihre Stickerei beiseitegelegt und wartete mit klopfendem Herzen. Doch seltsam: ihre Tür blieb geschlossen. Die leisen Schritte gingen an ihrer Tür vorüber. Die Tür der Nachbarin aber wurde wieder geöffnet und geschlossen, dann die übernächste und so fort.

Schwester Agnes faßte sich ein Herz und trat vorsichtig auf den dunklen Gang hinaus. Fast hätte sie aufgeschrien vor Erstaunen und Freude: Da ging doch das Gnadenkindl, umstrahlt von mildem Glanz! Es schaute in jede Zelle hinein wie eine Mutter, die über den Schlaf ihrer Kinder wacht. Nur bei Agnes hatte das Christkind nicht hineingeguckt, weil sie ja nicht geschlafen hatte.

Schwester Agnes kehrte in ihre Zelle zurück und nahm ihre Arbeit mit noch mehr Eifer wieder auf. Jetzt ging ihr das Sticken viel flotter von der Hand als vorher und sie verspürte auch keine Müdigkeit. Es dauerte gar nicht mehr lange, da waren die kleinen Schuhe fertig. Agnes räumte ihre Garnrollen zusammen, legte sich ins Bett, sprach ihr Nachtgebet und sank sofort in tiefen Schlaf. Sie bemerkte nicht mehr, wie sich ihre Tür öffnete und das Christkind auch zu ihr hineinschaute.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 181