Der Goldtropf

In einem Gamsloch bei der Ramerbäckalm am Brünnstein fand einmal der Hinterregauer-Bauer einen Goldtropf. Das ist eine Höhle, in der aus den Felsen flüssiges Gold wie Wasser heraustropft. Die Venediger, wandernde Händler aus der Lagunenstadt, waren dafür bekannt, daß sie wußten, wo überall im Gebirge bei uns und drüben im Kaisergebirge ein Goldtropf zu finden war. Sie zogen hinauf in die Bergeinsamkeit zu den geheimgehaltenen Felslöchern und stellten Häfen unter die Goldtropfstellen. Das Gold tropfte in die Töpfe und die Venediger holten es von Zeit zu Zeit ab, um es in ihrer Heimat an Goldschmiede zu verkaufen.

Nun hatte also der Hinterregauer das unwahrscheinliche Glück, so einen Goldtropf zu finden. In dem Loch, das er entdeckt hatte, war aber keine Schüssel voll Gold gestanden, vielmehr hing das kostbare, teuere Edelmetall wie angetrocknet an dem Gestein. Doch nichts ließ sich davon abbrechen. Trotzdem fühlte sich der Bauer als besonderer Glückspilz, denn er wollte sich schon zu helfen wissen, bevor vielleicht ein anderer die gleiche Entdeckung machte und den Schatz wegschleppte. Schnurstracks ging er deshalb heim und holte sich eine Axt und einen festen Sack. Keinem Menschen sagte er, warum er zurückgekommen war, oder gar, was er vorhatte. Im Eilschritt lief er wieder weg und den Berg hinauf. Als er wieder bei der Ramerbäckalm oben war, fand er aber den Platz nicht wieder, er mochte suchen und suchen, soviel und solange er wollte. Bis in die Nacht hinein schaute er hinter jeden Felszacken. Es war und blieb alles vergebens.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 53