Die Kapellengeister

Die Vierzehn-Nothelfer-Kapelle neben dem "Großfuchsenhof", auch "Fuchsenkapelle" genannt, stand früher an der Ecke, die von der Bad-Trißl-Straße und der Wernher-von-Braun-Straße gebildet wird, bevor dort ein Wohnhaus erbaut worden ist, also in der Nähe des Hallenfreibades von Oberaudorf. Sie war überschattet von den mächtigen Kronen dreier alter Lindenbäume. Heute steht die Kapelle neben dem "Großfuchsenhof" am Weg vom Dorf zur Sesselbahn aufs Hocheck. Darinnen stehen in kleinen Nischen die holzgeschnitzten, hübsch bemalten Figuren der vierzehn Heiligen, die als die vierzehn Nothelfer gelten, und in ihrer Mitte findet sich die Gottesmutter Maria. Am Giebel der Kapelle zeigt ein Gemälde den heiligen Bischof Donatus, der als Gewitterpatron und Beschützer der Fluren vom Landvolk schon immer sehr verehrt wurde.

In dieser Kapelle, als sie noch am alten Platz an der Straße nach Bad Trißl stand, hat einmal der Lechnerbauer Schutz vor einem Blitzschlag gefunden, als er mit seinem Fuhrwerk von Trißl nach Oberaudorf unterwegs war. Als das Gewitter losbrach, stellte er sich in der Kapelle unter den Schutz des hl. Donatus. Sein Pferd stand davor auf dem Weg. Da sauste ein Blitz herab und erschlug das Roß. Die Spur des Blitzstrahls ist noch im Gewölbe der kleinen Kapelle als Loch und an der Außenseite des Giebels als dunkler Zickzackstreifen zu erkennen. Der Lechner aber blieb unverletzt.

Unter den Linden hinter der Kapelle sollen drei Husaren begraben sein, die beim Pandureneinfall 1743 dort getötet worden waren. Vielleicht hängt damit der Kapellengeist zusammen, der in verschiedenerlei Gestalten dort früher umging. Vielleicht sind diese Gespenster aber auch die ruhelosen armen Seelen von Hingerichteten, die in der Vierzehn-Nothelfer-Kapelle auf dem Weg zum Galgen ihr letztes Gebet verrichten durften. Die Kapelle lag ja direkt am "Armsünderweg" der Verurteilten zur Richtstätte. Der Galgen war gleich in nächster Nachbarschaft auf dem "Galgenbichl" im Gscheier Winkel aufgerichtet. Das ist der kleine Hügel neben der evangelischen Pfarrkirche.

Noch im ersten Viertel unseres Jahrhunderts rühmten sich Oberaudorfer, den Kapellengeist gesehen zu haben oder gar von ihm geängstigt worden zu sein. So wunderte sich ein Audorfer Bauer, als er einmal mit seinen zwei Pferden vorm Wagen gegen Trißl dahinfuhr, weil seine braven Tiere plötzlich scheuten. Es war grad kurz vor der Vierzehn-Nothelfer-Kapelle. Weil die Gäule nicht mehr weiter wollten, stieg der Bauer vom Wagen ab. Er wollte die störrisch gewordenen Tiere beruhigen, deshalb trat er vor sie hin und redete freundlich auf sie ein und tätschelte sie am Hals. Dann wollte er den Zügel in die Hand nehmen und sie am Halfter vorwärtsführen. Aber da stiegen die Pferde wiehernd und schnaubend mit den Vorderbeinen hoch. Der Bauer mußte zur Seite springen, um von den Hufen nicht getroffen zu werden. Dabei kehrte er zufällig sein Gesicht der Fuchsenkapelle zu. Dabei fuhr ihm ein Schreck in die Glieder, denn hinter der Kapelle hervor kam eine schwarze Gestalt. Es war ein sehr groß gewachsener Mann, der aber keinen Kopf hatte. Vielmehr trug er diesen unterm Arm. Zugleich lag in der kleinen halbrunden Wandnische unter dem Altartisch, in der damals ein Armseelenbild zu sehen war, ein struppiger Hund, schwarz mit glühenden Augen. Der fing nun auch noch an drohend zu knurren. Schnell bekreuzigte der sich zu Tode erschrockene Bauer. Und schon war der Spuk spurlos verschwunden. Die Pferde legten sich wieder in die Seile und trabten an, ihr schweißnasses Fell glättete sich wieder. Das Haar des Bauern war kitzgrau geworden.

Manche Leute, die des Abends oder in der Nacht an der "Fuchsenkapelle" vorbeikamen, hörten dort kläglich wimmernde Stimmen. Es klang, als ob jemand in letzter Not und ohne Hoffnung sich in ein schreckliches Schicksal ergeben würde. Das leise Jammern wurde auch des öfteren von lautem Aufheulen unterbrochen und nach wenigen Minuten war es darauf wieder still wie vorher. Der schwarze Hund mit den glühenden Augen, der Kapellenhund, wurde auch beobachtet, wie er über das Lerchfeld, das sich zwischen der Kapelle und dem Auerbach hinzieht, dahergerannt kam, um dann in der Kapelle zu verschwinden. Er konnte dort aber unmittelbar darauf nie entdeckt werden.

Zuweilen sah man dort auch einen Lichtschein, der sich vom Galgenbichl herab der Kapelle näherte, oder in der Kapelle tanzte ein Flämmchen flackernd herum oder außen um sie herum. Es waren die Erscheinungen der Geister jener Verbrecher, die hier hingerichtet worden waren und seither keinen Frieden finden konnten. Wanderer, die solches wahrnahmen, haben für die armen Seelen ein Fürbittgebet verrichtet. Darauf ist der Spuk jedesmal verschwunden.

Wie anfangs erwähnt, mußte die Fuchsen- oder Vierzehn-Nothelfer-Kapelle dem über den Ort hinausgreifenden Wohnungsbau weichen. Sie wurde abgetragen und auf dem Grundstück des Kapellenbesitzers, des "Großfuchs", wie dieser mit Hausnamen heißt, wieder aufgebaut. Der Großfuchsenhof ist aber längst auch kein Bauernhof mehr, sondern nach baulicher Erweiterung ein Gästehaus geworden und im früheren Stallgewölbe ist ein Versicherungsbüro eingezogen.

Vielleicht hängen diese Sagen auch noch entfernt damit zusammen, daß nordwestlich der Fuchsenkapelle auf dem Wasserfeldbichl, im Gscheier Winkel, das ist das sanft ansteigende Land neben der evangelischen Kirche, Menschen schon vor dreitausend Jahren Kult- oder Begräbnisstätten angelegt hatten. Das beweisen Ausgrabungen, die Tongefäße und -scherben und Waffen zutage gefördert hatten. Doch die damals hier Lebenden dürften wohl längst ihre Ruhe gefunden haben, schon deshalb, weil anzunehmen ist, daß diese solcher Untaten gar nicht fähig gewesen waren, wie sie von Menschen aus nicht so weit zurückliegenden Zeitläufen und gar aus unserer Zeit vollbracht haben und vollbringen, auf daß deren Seelen durch ruheloses Umhergeistern büßen müssen.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 40