Das zerbrochene Rad

Einmal kam ein Händler mit seinem Planwagen voller kostbarer Waren, die er im fernen Italien für die Begüterten in deutschen Städten eingekauft hatte, auf der von Süden herführenden Handelsstraße über den Kirnsteiner Bichl gefahren. Sein Fahrzeug war nicht mehr das beste, denn die oft miserablen Straßen hatten es schon sehr hergerüttelt und herumgebeutelt. Mitten im Wald, nur einen Steinwurf von der Ruine Kirnstein entfernt, brach ein Rad, sodaß der Kaufmann nicht mehr weiterfahren konnte.

Es wurde schon dunkel, und wer weiß, wie weit bis zur nächsten Herberge noch gewesen wäre. Also spannte der Händler seine Pferde aus und schlang die Zügel um einen Baumstamm. Er selbst bereitete sich ein notdürftiges Nachtlager am Waldrand. Morgen würde man ja weitersehen.

Der Handelsmann mochte ein paar Stunden geschlafen haben, als ihm jemand auf die Schulter klopfte, sodaß er aufwachte. Sich schlaftrunken die Augen reibend, fragte er mürrisch: "Was ist denn los ?". Vor sich sah er einen riesenhaften Mann stehen. Der war in ein ledernes Wams und weite Pluderhosen gekleidet und hatte auf dem Kopf einen welschen Hut mit einer langen Spielhahnfeder drauf.

Der große Fremde forderte den müde am Boden Hockenden auf: "Lade den Wagen ab! Mach ihn aber ganz leer!". Der Kaufmann wagte nicht zu widersprechen und tat, wie ihm geheißen worden war. Er stapelte die ganze Ladung am Waldrand auf, was ihm nicht wenig Mühe bereitete. Darauf packte der Riese den Wagen und lud ihn sich auf die Schultern. Damit stapfte er mit langen Schritten davon, ohne ein Wort zu sagen. Der Kaufmann wollte ihm nachrennen, aber er vermochte nicht, ihn einzuholen. So verlor er ihn bald aus den Augen. Was blieb ihm schon anderes übrig, als zu seinen Rossen zurückzugehen? Dort setzte er sich neben seine Truhen, Kisten und Ballen ins Gras, und während er das seltsame Erlebnis bedachte, schlief er ein.

Auf einmal weckte ihn ein lautes Gepolter, das die Straße herauf kam. Gleich war der Schläfer hellwach. Der Riese schritt den Kirnsteiner Berg herauf, den Wagen wieder auf den Schultern, und er ging daher, als hätte der Wagen kein nennenswertes Gewicht. Verwundert sah der Kaufmann zu, wie der andere das Fahrzeug neben die Lasten auf die Straße stellte.

Grad als er den Mund auftun wollte, war jener auch schon verschwunden.

Nun rappelte sich der Verdutzte aber schleunigst auf und besah sich seinen Wagen. Mit Staunen stellte er fest, daß das ja ein ganz neuer war und nicht der, mit dem er hierhergekommen war. Ein nagelneues Fahrzeug war es und stabil gebaut, daß es nur selten ein ähnliches gab. Gleich ging er daran, seine Ladung wieder aufzuladen, und dann spannte er die Pferde ein und fuhr fröhlich los.

Es war ein gutes Stückchen noch bis zum nächsten Dorf. Dort in Fischbach kehrte er zunächst beim Hofwirt ein, um seinen großen Hunger zu stillen und um sich zu erkundigen, ob man einen riesengroßen Welschen kenne oder gesehen habe. Aber keiner wußte was von so einem Mann. Hernach fragte der Kaufmann auch beim Wagner von Fischbach und später auch bei dem von Flintsbach nach, ob in der vergangenen Nacht einer bei ihnen ein altes Fahrzeug gegen ein neues vertauscht oder gar ein neues gekauft habe. Auch in der Dorfschmiede erkundigte er sich. Doch keiner der Handwerksmeister wußte davon etwas. Der Kaufmann aber erzählte wohlweislich nichts von dem, was er in der letzten Nacht und am Morgen erlebt hatte, denn er meinte richtig, daß es nicht gut wäre auszuplaudern, was eigentlich nur ihn und den Fremden etwas anginge. Sicher hatte er damit recht. Der neue Wagen hielt her, so lange der Kaufmann seinen Geschäften aufweiten Fahrten nachging. Ja nicht einmal ein Rad ging jemals mehr zu Bruch.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 79