Der Geist am Ramserer Stein

Der Hintergruber wußte noch eine Sage, die er von seinem Großvater gehört hatte:

Im 16. Jahrhundert war's. Da wollte einmal ein junger Bursche von Schöffau am Kieferbach zum Kammerfensterln gehen. Einen weiten Weg hatte er, denn sein Dirndl war auf dem Kleinen Berg zuhause. Da ihn ja tagsüber bis in den späten Abend hinein die Arbeit auf dem Feld und im Stall nicht losgelassen hatte, war es schon zwei Uhr in der Nacht geworden, bis er nun zum Ramsererstein kam. Das ist die Grenzscheide zwischen Mühlau, dem Hochtal zwischen Oberaudorf und Kieferbach, und Kleinberg. Als er die Mühlauer Straße, die nach Dörfl führt, überquert hatte, kam er an einen Weidezaun, den man auf einem Gatterstiegerl übersteigen konnte. Doch direkt am hölzernen Stiegerl lag ein großer, schwarzer Hund mit feurigen Augen. Als der "Gaßler" diesem näher kam - so nannte man einen, der eigentlich verbotener Weise "über Gaß" ging -, da fing der Hund bedrohlich an zu knurren. Dem Burschen standen die Haare zu Berge. Er wollte dem Untier ausweichen und ging deshalb seitwärts über den Wanderweg, der am abfallenden Felsen entlang führt. Doch da verfehlte er im Dunkel der Nacht einen Tritt und stürzte die hohe Wand hinunter.

Da lag er nun ziemlich zerschunden unten im Gras und konnte sich kaum rühren. In seiner Not flehte er um Hilfe zur Mutter Gottes auf dem "Uselberg", der heute fälschlich "Nußlberg" heißt. Durch Marias Fürbitte fand man ihn schon in aller Morgenfrühe, brachte ihn heim, und seine Verletzungen heilten auffallend rasch, sodaß er bald wieder ganz gesund war. Auf dem Nußlberg errichtete der Gerettete eine Verlöbnistafel, wie er es der Himmelsmutter versprochen hatte. Als dort 1874 die neue Kapelle erbaut wurde, wurde diese Tafel entfernt.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 27