Der fromme Ritter

In der Friedhofskapelle zu Westerndorf/Pang hängt im Beinhaus ein auf Holz gemaltes Ölbild. Daraufist folgendes dargestellt: Vor einem Karner (Beinhaus) kniet betend ein Ritter. Unter seinem stahlblauen Panzer trägt er einen weißen Leibrock und an den Eisenschuhen große zackige Sporen. Durchs Friedhoftor drängt eine Schar von bewaffneten Rittern. Den offenen Gräbern sind Tote entstiegen. Die knöchernen Gestalten schwingen Dreschflegel, Sensen, Äxte oder große eiserne Zangen und stellen sich den Eindringlingen mit Pickeln und Schaufeln, Spießen und Flinten oder mit Pfeil und Bogen entgegen.

Eine grausige Schlacht ist zwischen den Gräbern im Gange.

Was sich da ereignet hat, das berichtet diese Sage:

Es war einmal ein gar frommer Ritter. Wenn er bei seinen Ausritten an einer Kirche oder Kapelle vorbeikam, hielt er immer an, stieg vom Pferd und betete kurz für sein eigenes Wohlergehen und Seelenheil sowie für das der Armen Seelen. Er meinte, Gott habe ihn dafür sichtbarlich gesegnet und belohnt, denn er hatte rühmenswerte Heldentaten vollbracht und war aus vielen ritterlichen Kämpfen immer wieder fast oder ganz unversehrt auf seine Burg heimgekehrt, auch aus fernen Ländern, wo er für eine gerechte Sache sein Leben in die Schanze geschlagen hatte.

Eines Nachts trabte dieser edle Ritter, es war kurz vor Mitternacht, am alten Westerndorfer Friedhof entlang. Der Mond beschien die weiße Friedhofsmauer. Ein dunkler Fleck darin zeigte, wo der Eingang zur Friedhofskapelle war. Wie schon so oft stieg der Ritter auch zu dieser späten Stunde vom Pferd, band es am Friedhoftor fest und begab sich die wenigen Schritte zum Kirchlein, um seiner Gewohnheit treu, dort ein Gebet zu verrichten. Kaum hatte er sich niedergekniet, da hörte er hinter sich ein Männerstimmengemurmel. Als er sich umwandte, da stürzte eine Rotte Raubritter hinter der Friedhofsmauer hervor. Im Aufspringen riß der so Überfallene sein Schwert aus der Scheide. Verzweifelt und tapfer hieb er um sich und streckte die, die ihm zu nahe gekommen waren, nieder. Aber der Feinde waren es zuviele! Alle diese verwegenen Kerle abzuwehren und in die Flucht zu schlagen, das war schlechterdings unmöglich. Das hatte der Ritter bald erkannt und so schickte er in all dem Gewühle und Schwerterklirren ein Stoßgebet zum Himmel. Im selben Augenblick brachen die Gräber auf, die heraussteigenden Gerippe schienen über den Boden hinweg den wüsten Räubern entgegenzufliegen und sie schlugen auf diese wie wild ein mit ihren Dreschflegeln, Äxten und Pickeln und was sonst noch sie in ihren knöchernen Fäusten hielten. Die Angreifer befiel ein ungeheueres Entsetzen und wer von ihnen noch konnte, der suchte sein Heil in der Flucht.

Auf diese absonderliche Weise ward der fromme Ritter gerettet. Die Toten, für die er so oft gebetet, hatten das vollbracht. Als der letzte Angreifer in jener Nacht verschwunden war, war auch von den aus den Gräbern Gestiegenen nichts mehr zu sehen. Still und friedlich wie eh und je lagen die Grabstätten innerhalb des Mauerrings rund ums Kirchlein. Der erschöpfte Ritter erholte sich schnell, wunderte sich gar sehr über das Vorgefallene und daß er überhaupt noch am Leben war. Dann kniete er nieder, und es wurde ein langes Dankgebet, das er nun zum Himmel sandte.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 168