Die Sage von der Kapelle in Vorderrechenau

Es war nichts Seltenes, daß sich in den Bergen um Audorf Räuber herumtrieben. Denn das Hinüber- und Herüberwechseln über die nahe Grenze im Gebirge machte es den Polizisten und Grenzstreifen schwer, ihrer habhaft zu werden und sie hinter Schloß und Riegel zu bringen.

Anno 1687 wurde der Vorderrechenauer Berghof, in dem längst alle zu Bett gegangen waren und im wohlverdienten Schlaf lagen, von einer Bande aufgeschreckt, die krachend die Haustüre eindrückte und dann alle Bewohner aus den Betten zerrte. Alle Hausgenossen wurden in der Stube zusammengetrieben und gefesselt und schließlich in den Keller gesperrt. Der Vorderrechenauer selbst aber hatte sich zur Wehr gesetzt und zwei der Räuber mit bloßen Fäusten niedergestreckt und sie dann die Treppe vom oberen Stock hinuntergeworfen. Aber gleich fielen andere über ihn her und banden ihm mit einem dicken Strick Hände und Füße zusammen. So verschnürt zerrten sie ihn in die Selchkammer und hingen ihn wie einen großen Schinken in den Rauchfang. Darauf entfachten die Verbrecher ein großes Feuer im Kamin, rafften alles zusammen, was ihnen mitnehmenswert schien, und flohen in den Wald.

Der Bauer aber in seiner größten Not nahm seine Zuflucht zur Mutter Gottes von Oberaudorf, deren Gnadenfigur überm Hochaltar der Kirche unten im Dorf steht. Plötzlich verzog sich der beißende Rauch in dem engen Gefängnis und der Eingesperrte bekam erst mal wieder Luft. Schlagartig war das Feuer in sich zusammengesunken und erloschen. Es hatte aber die Stricke an Händen und Füßen so angesengt, daß es dem kräftigen Mann bald gelang, sich zu befreien. Sofort holte er die Seinen aus ihrem Verlies.

Weil ihm die Gottesmutter so wunderbar geholfen hatte, ließ der Vorderrechenauer zum Dank und zur Erinnerung an die ausgestandene Not und an die Hilfe Mariens neben seinem Hof eine Kapelle bauen.

Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 55