Vom Walchensee
Vom Walchensee wußte sich unser Volk in Stadt und Land früher viel zu erzählen. Als am Allerheiligentage des Jahres 1755 in Portugal die Stadt Lissabon vom Erdbeben zerstört und großenteils vom Meer verschlungen wurde, da fing der Walchensee an zu brausen und zu kochen, daß ein paar Fischer, die gerade auf der Überfahrt waren, von den haushohen Wellen in die Höhe geworfen wurden. Sie mußten bald darauf zum Kurfürsten nach München und ihm Bericht erstatten. Damals sank der Achensee um vier Fuß und die Achen oberhalb Lenggries blieb einen ganzen Tag lang aus. Am gleichen Tag und zur selben Stunde fing die Sandreiße zwischen Walchensee und Urfeld zu laufen an und eine Seite vom Windpassel ober Straßberg stürzte ein, so daß diese Plätze von den Benediktbeurer Klosterherren den Namen Lissabona erhielten. Auch im Isarwinkel verspürte man den Stoß; beim Lautenbacher zu Tölz wurde ein Handwerksbursche ein paar Schritte vom Zaun weggeschleudert.
Das Wasser des Walchensees soll unterirdisch auch durch die Kuhflucht in die Loisach bei Partenkirchen abfließen. Ein Binder hat einmal einen Schlegel in den See geworfen, der ist dort wieder zum Vorschein gekommen.
Der See steht durch eine Ader mit dem Meer in Verbindung und ist deshalb unergründlich. Man hat schon die schwersten Steine an langmächtigen Seilen mitten in den See hinabgelassen, ist aber niemals auf einen Boden gekommen.
Einmal wollte ein Mann die Tiefe des Walchensees messen und wissen, wie es drunten aussieht. Er ließ sich in einer Ochsenhaut oder, wie andere sagen, in einem gläsernen Kasten in die Tiefe hinabsenken. Da sperrte ein fürchterlicher Riesenfisch seinen Rachen gegen ihn auf, daß er kaum mehr das Glockenzeichen geben konnte, auf das man ihn wieder heraufzog. Als er es ein zweites Mal wagte, kam er nicht mehr zum Vorschein. Am Ufer aber hörte man eine Stimme aus dem See: "Gründst du mich, so schlünd ich dich!"
Ein andermal fanden Bauern eine Kette, die auf den Ufersteinen lag und ins Wasser hing. Beim Herausziehen ging die eiserne Kette in eine silberne, die silberne in eine goldene über, bis schließlich ein Wagen zum Vorschein kam.
In den Tiefen lebt ein mächtiger Waller mit Augen so groß
wie Feuerräder, der den ganzen See ausspannt. Seit tausend und mehr
Jahren hält er seinen Schweif im Maul. Wenn aber einmal Unglauben
und Gottlosigkeit im Land Herr werden, läßt er ihn aus und
zerschlägt den Kesselberg. Wie eine Sündflut brechen dann die
Wasser über das Land und ertränken die Menschen; auch die schöne
Stadt München wird von ihnen zerstört. Deshalb hat man den Berg
mit eisernen Bändern umklammert und diese mit Riegeln verfestigt,
aber das wird nichts helfen. In der ehemaligen Gruftkirche zu München
war eine ewige Messe gestiftet, um das Unglück abzuwenden und alle
Quatember ritt ein Mann auf einem Schimmel durch die Straßen und
mahnte die Bürger zur Buße. Wenn ein neuer Kurfürst an
die Regierung kam, ließ er einen geweihten goldenen Ring in den
See werfen, um das Ungeheuer zu versöhnen und der Abt von Benediktbeuern
hielt mit seinen Untertanen an bestimmten Tagen eine Prozession um den
ganzen See.
Quelle: Sagen aus dem Isarwinkel, Willibald Schmidt, Bad Tölz, 1936, 1979;