Das Bannkraut

Ein Faulbacher Wirt hatte die Sucht, schnell reich zu werden und wollte deswegen das Bannkraut pflücken, das auf einer Anhöhe bei Stadtprozelten wuchs, mitten im dichten Walde. Der Mann dachte: "Habe ich erst das Wunderkraut, werden sich mir die Schätze der Erde zeigen, und die Wache haltenden Geister müssen sie herausgeben und dürfen mir nichts tun." Aber er wusste auch, dass man dieses Kraut nur einmal im Jahre, nämlich in der heiligen Weihnacht, pflücken konnte.

Die Christnacht nahte wieder heran. Da wurde der Mann immer unruhiger; denn sein Nachbar, der alte "Julesvetter", hatte ihn vor den Schrecknissen gewarnt, die mit dem Pflücken des seltenen Krautes verbunden wären.

Die Heilige Nacht ist da. Und die Geldgier treibt den Faulbacher Wirt zum Dorfe hinaus, nach Stadtprozelten, dem Kühlberge zu. Er schleicht sich verstohlen dahin, damit er "unberufen" bleibe, sonst ist aller Zauber fort. So, jetzt geht's die Höhe hinan und in den Föhrenwald. Dort drinnen wächst das Kraut! Kaum aber hat der Faulbacher den Wald betreten, kommt ihm ein Ungetüm entgegen, das sich ihm erschreckend vor die Füße wälzt. Doch er bezwingt seine Furcht, macht einen Sprung über das Schreckgespenst und eilt weiter. Nun läuft ein schwarzer Mann heran, der ist so hoch wie ein Turm und nimmt den ganzen Weg ein. Jetzt ist der Riese unmittelbar vor ihm. Dem Faulbacher stehen die Haare zu Berge. Wie soll er dem neuen Hindernis entrinnen? Zurück will er nicht. Da bemerkt er, dass die Beine des Riesen so weit voneinander abstehen, dass er dazwischen hindurchschlüpfen kann. Er versucht's, und es glückt ihm auch. Er kommt glatt hindurch. Zum Platze, wo das Kräutlein wächst, ist es nun nicht mehr weit. Doch jetzt rücken von allen Seiten Kriegsknechte heran, zu Ross und zu Fuß, und sie strecken und schwingen dem Manne die Waffen entgegen. Unserem Faulbacher quillt der Schweiß aus allen Poren, aber er geht trotzdem weiter, und es gelingt ihm, bald an einem Reiter, bald an einem Fußknecht vorüberzuhuschen, ohne dass ihm etwas geschieht. Doch neue Reiterscharen sprengen in den Weg, aber die Geldgier reißt ihn trotzdem vorwärts. Endlich lichten sich die Reihen. Nun kommt der letzte der Reiter, jetzt ist er auch vorbei, und gleich dort drüben muss das Zauberkraut sein. Der Mann wandelt wie im Fieber. Noch höchstens fünfzig Schritte - Bim! klingt's auf einmal durch die Sternennacht, bim - und so weiter. Die Stadtprozeltener Turmuhr gibt die zwölfte Stunde an. Aber schon mit dem ersten Glockenschlage ist aller Spuk verschwunden, und die kostbare Zeit ist um. Das Wunderkraut kann man erst wieder übers Jahr, in der nächsten Weihnacht, finden. Todmatt wankte der Faulbacher Wirt heimwärts, die Haare waren ihm in der einen Schreckensstunde ergraut, und er war über Nacht ein alter Mann geworden, den es nie mehr nach dem Bannkraut gelüstete.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 165ff