Die Burg auf dem Happes-Kippel

Hoch auf dem einzeln stehenden Berge "Happes-Kippel" bei Orb befand sich vor Jahren eine trutzige Burg, und darin hauste ein Ritter, der hatte kein Herz für die Armen, sondern bedrückte und quälte sie, wann und wo er nur konnte. Nun wohnte am Fuße des Berges in einem gebrechlichen Hüttlein eine Witwe mit ihren zwei Kindern. Sie besaßen weiter nichts als ein paar Ziegen, die gerade so viel Milch gaben, dass sich die arme Familie zur Not ernähren konnte.

Es war an einem Sommertage, da vergnügte sich das zehnjährige Söhnlein des Burgherrn vorm Tore mit Armbrustschießen. Die Ziegen der Witwe suchten im kühlen Gebüsch, das am Berghange wuchs, nach Blättern und Kräutern, kletterten höher den Berg hinan und kamen so in die Nähe der Ritterburg, wo der Kleine sein Spiel mit den Pfeilen trieb. Und wie er die Geißen sah, blitzte wilde Freude in seinen Augen auf. Die Tiere kamen ihm gerade recht; denn das Schießen auf bloße Scheiben langweilte ihn bereits, und er wollte jetzt die Geißen zum Ziele nehmen. Tatsächlich legte er auf sie an, die Bolzen flogen und die Ziegen der armen Witwe wurden zu Boden gestreckt. Wie jubelte da der Junker, weil er so gut getroffen
hatte! Er rief lachend und stolz seinen Vater herbei.

Die Witwe hatte schon eine Zeitlang nach ihren Ziegen ausgespäht, die sich für gewöhnlich nicht weit von der Hütte entfernten. Die Frau wunderte sich, dass sie die Geißen nicht fand, und stieg keuchend immer höher den Berghang hinauf, bis sie dahin kam, wo das Herrensöhnchen seinem Vater frohlockend die zu Tode getroffenen Tiere zeigte. Die arme Frau erbleichte vor Schrecken, warf sich neben den verbluteten Ziegen nieder, weinte und jammerte: "Womit soll ich jetzt meine armen Kinder ernähren? Nun müssen sie Hungers sterben."

Da verlachte noch der junge Schütze die trostlose Mutter und höhnte: "Lass dein Geschrei, was liegt daran, wenn deine Rangen verhungern, um euch Bauernpack kümmert sich niemand!" Der Ritter stand dabei, ohne seinen Jungen zu schelten; im Gegenteil, er nickte sogar beifällig zu den frechen Hohnworten des Buben. Jetzt aber vermochte die arme Frau in ihrem Elend nimmer zu schweigen; sie vergaß alle Rücksicht auf den adeligen Herrn und schrie: "Glaubt ihr, ein fleißiger Bauer wäre nicht mehr wert als ein übermütiger, schlechter Ritter, der arme Leute schindet und ihnen das Letzte nimmt, was sie besitzen! Ich bin freilich nur ein schwaches Weib und kann eure Untaten nicht rächen, aber - hört ihr des Donners Stimme da oben? Hütet euch!" Und da fing es an stärker zu donnern und zu blitzen, der Himmel wurde ganz schwarz, und es hob ein mächtiger Sturm an. Der Ritter und sein Bub eilten in die Burg und sannen auf Rache gegen die Frau, die ihnen in ihrer Verzweiflung zu drohen gewagt hatte, und die Arme stieg trostlos hinunter ins Hüttlein zu den hungrigen Kindern.

Das Unwetter tobte ärger und ärger um den Berg und seinen Gipfel und um die Burg. Bis zum anderen Morgen war diese in sich zusammengestürzt, und man sah nichts mehr als einen wüsten Trümmerhaufen.

Heute erblickst du kaum noch einen Stein. Sogar der Name der Burg ist in Vergessenheit geraten. Am Fuße des Burgberges jedoch breiten sich weite Felder, auf denen arbeitsame Bauern alljährlich säen und ernten.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 198f