Der Hesselsmüller

Der Wanderer durchs liebliche Elsavatal kommt oberhalb des Dorfes Sommerau an der Hesselsmühle vorbei. Diese taucht rechts mit ihren weißen Wänden aus dem dunklen Wiesengrunde, und linker Hand beginnt gleich der hohe Tannenwald. In der Hesselsmühle nun wohnte um das Jahr 1500 der Müller Jakob Hock. Er schaffte fleißig den langen Tag hindurch und auch manche Nacht. So wurde er zum wohlhabenden Mann und genoss in der ganzen Gegend großes Ansehen. Selbst Albertus von Fechenbach, der Sommerauer Grundherr, erkor ihn zum Freunde und kehrte öfters bei ihm ein. Und als die Müllersleute ein Knäblein bekamen, hob's der Fechenbacher über die Taufe und gab ihm seinen eigenen Namen Albertus.

Wie aber ein paar Jahre um waren, starb die brave, fromme Müllerin. Von der Zeit an ging's mit Müller und Mühle abwärts. Der einst so fleißige Mann ergab sich dem Müßiggange, und dann fiel ihm wohl ein, wildern zu gehen in den nahen Wald. Als er einmal ein Reh erlegt hat und es gerade ausnehmen will, ertappt ihn der Burgherr und macht ihm strenge Vorwürfe. Der Müller sagt nichts, aber er hegt von jetzt an heimlichen, bitteren Groll gegen den Fechenbacher und sinnt auf Rache. Das Wildern trieb er weiter, und wenn er dann heimkam, hockte er mit einigen Kumpanen um den Eichentisch, zechte und spielte mit Würfeln bis tief in die Nacht, ja manchmal bis zum hellen Morgen. Statt wie früher nach der Mühle zu sehen, ob sie etwa leer lief, schwang er den Becher, warf die Würfel, und wilde Flüche und rohes Gelächter mischten sich ins einförmige Klippklapp der Mühle.

Eines Morgens nun zieht ein Haufen Zigeuner das Elsavatal herauf. Mehrere zerlumpte Buben kommen in die Mühle betteln. Der Müller, der vom nächtlichen Gelage noch einen schweren Kopf hat, wird zornig und droht: "Hinaus, verdammtes Gesindel, sonst hetz' ich euch die Hunde an den Hals." Die Kinder kreischen auf, und hui - stieben sie davon. Bloß ein Büblein bleibt; es hat so argen Hunger und bittet nochmals: "Müller, um Gottes Willen nur ein Stück Brot!" Da packt den Zornigen noch größere Wut, und er hetzt den Hund. Voll Angst läuft das barfüßige Zigeunerbüblein hinweg. Der Hund ihm nach. Und vor lauter Schrecken springt's geradewegs in den hoch schäumenden Bach, und die Wellen reißen es fort. Zigeuner und des Müllers Gesinde versuchen die Rettung und rasen entsetzt an den Ufern hin. Vergeblich, das braune Kind ist ertrunken. Und seine jammernde Mutter flucht in ihrem Schmerze dem Müller; so ein harter Mann, sagt sie, könne leicht noch zum Mörder seines eigenen Kindes werden. Bei diesen Worten durchzuckt es den Müller wie von einem Schrecken, und schweigend geht er ins Haus. Aber besser ist er nicht geworden. Der Arbeit ging er vollends aus dem Wege, und die nächtlichen Gelage mehrten sich. Um sein Söhnlein kümmerte er sich so gut wie nicht, das blieb vielmehr ganz dem rohen Gesinde überlassen.

Auch der Schlossherr hört vom Treiben in der Mühle, und ihn dauert sein Patenkind, der kleine Albert. Soll der Knabe in solchem Haus seine Jugend verbringen! Und schnell entschlossen, lässt der Freiherr seinen Schimmel satteln und reitet zur Hesselsmühle. Wie einst und immer springt ihm der fleißige Bach entgegen, aber das Mühlenrad steht, und das Mahlwerk klappert nicht mehr. Finster, schier drohend, gucken die dunklen Tannen vom Hesseisberg auf das verwahrloste Gehöft herunter. Wie der Schlossherr ins Haus tritt, sitzt der Müller am Tisch, den müden Kopf in die Hände gestützt. Die rot unterlaufenen, schlaftrunkenen Augen zeugen von durchwachter Nacht. Albertus von Fechenbach bringt sein Anliegen vor: er wolle den Müllerssohn aufs Schloss nehmen und ihn dort halten und erziehen wie sein eigen Kind. Erst braust Jakob Hock auf und fährt den Burgherrn zornig an. Allein nach gütlichem Zureden willigt er doch ein, und der Knabe kommt aufs Fechenbacher Schloß. Da wächst er unter sorgfältiger Pflege heran und wird im Schießen, Reiten, Fechten und in den Wissenschaften unterrichtet. Und was für ein gelehriger Schüler er ist! Bald vermag keiner besser als er den Pfeil zu schleudern und die Klinge zu kreuzen. Seinem Herrn ist er treu ergeben und wird dessen vertrauter Freund. So zieht das Jahr 1525 herauf. Im ganzen Frankenland erhebt sich der Bauer gegen seinen Herrn und fordert Abschaffung der Fron und freie Jagd in Wasser und Wald auch für den gemeinen Mann. Bald schlagen die Flammen aus den Burgen. Auch an dem Untermain wogt der Aufruhr. Und eines Maiabends rückt ein großes Bauernheer vom Odenwald gegen das Sommerauer Schloß. Anführer ist Jakob Hock, der Hesselsmüller. Dieser war unter den ersten, welche sich dem Aufstande anschlössen. Zu verlieren hatte er wenig; aber fleißig zu plündern nahm er sich vor, um seiner heruntergekommenen Mühle wieder aufzuhelfen. Heute nun gilt's dem adeligen Herrn. Wie lange schon hat der Hesselsmüller den Tag ersehnt, wo er dem Burgherrn seine Schmach im Wald heimzahlen könnte! Und den Zehnt, den er ins Schloss getragen, wollte er doppelt und dreifach wieder holen; ja, das wollte er, Jakob Hock, der Hesselsmüller! "Mein eigener Sohn ist ja im Schloss", meint er, "der wird mir schon ein heimlich Türlein öffnen." Allein es kommt anders. Gerade der junge Albert überwacht sorgsam die Verteidigung der Burg. In aller Stille legen einige Bauern die Leitern über den See und an die Mauern. Den Fechenbachern glückt's, die Leitern umzuwerfen - und etliche Bauern stürzen rücklings in den See. Andere versuchen, mit Äxten das Tor einzuschlagen; wohlgezielte Pfeile strecken sie nieder. "Drauf, Drauf!" schreien die Bauern in mächtiger Wut. Und wirklich dringen sie folgenden Tags an der hinteren Seite des Schlosses ein. Wie sie johlen und lärmen vor Freude! Auf den Mauern weht die Bauernfahne. Albertus von Fechenbach hat sich mit seinen Reisigen in den Turm zurückgezogen. "Hallo, Feuer, Feuer!" schallt's auf einmal. Wahrhaftig, rote Feuergarben prasseln aus dem Schlosse. "Feuer!" Jetzt,
Fechenbacher, wehre dich, die Stunde naht! Der will das letzte Mittel wagen und versucht mit seinen Mannen den Bauernhaufen zu durchbrechen. Schon verlassen sie das flammende Schloss. Da winkt in höchster Not den Fechenbachern die Rettung. Graf Rieneck von Wildenstein kommt mit einer Reihe schwer bewaffneter Knechte herangesprengt, und Schlag auf Schlag fällt auf die verdutzten Bauern. Diese werden auseinandergetrieben, die meisten werden getötet, und nur wenige entkommen, darunter der Hesselsmüller. Sie flüchten in den Sommerauer Wald; besonders durch den dunklen Tann des Hesseisberges irren sie wie gehetztes Wild. Albert, der Müllerssohn, leitet die Verfolgung. Er möchte für den Vater, falls er ihn findet, bei seinem Herrn um Schonung bitten. Da sieht er eben hinter einer dicken Tanne einen verwilderten rothaarigen Mann hervorlauern. Das muss einer der Entflohenen sein. "Halt, gib dich gefangen!" ruft Albert. Aber schon hat der andere die Armbrust gehoben, jetzt fliegt der Pfeil durchs Geäst und dem jungen Hesselsmüller durch den Hals. Todwund sinkt der Jüngling nieder. Seme Leute tragen ihn auf einer Bahre von Tannenzweigen in die nahe Hesselsmühle hinab. Und im Hause, wo er geboren, liegt nun der Jüngling im Sterben. Die Sonnenstrahlen zittern durch den grünen Weinstock, der das Fenster umrankt, ins Zimmer herein und huschen übers wachsgelbe Gesicht des Sterbenden und über seine blonden, blutgeröteten Locken. Noch ein Stündlein atmet er, dann öffnet er weit die Augen, flüstert: "Schont meinen Vater und grüßt meinen Herrn!" Noch ein Seufzer, und er ist tot. Der goldene Abendschein gleitet wie zum Abschied über die brechenden Augen; heilige, tiefe Stille herrscht im Gemach.

Da wird die Ruhe durch heftigen Lärm vor der Mühle unterbrochen. "Was gibt's draußen?" Ah! Sie bringen den Bauern, welcher den Jüngling erschossen hat. So haben sie ihn doch eingefangen! Und wie er sich wehrt! Er will nicht in die Mühle. Sie schieben ihn mit Gewalt hinein und binden ihn am Stubenpfosten fest. Einige Schritte davon ruht der entschlummerte Jüngling. Auf einmal beginnt der Gefesselte zu toben, zerrt und zieht an den Stricken und schreit wie ein Tier. Als man ihn fragt, was er denn vorhabe, ruft er: "Mein Sohn! Ich bin der Mörder meines Kindes!" "Bei Gott, der Hesselsmüller!" ruft ein Diener des Fechenbachers. Voll Schauder betrachten sie den Rothaarigen näher. Wahrlich, der Hesselsmüller! Keiner von ihnen hatte den verwilderten Mann mit dem wüsten Barte gleich erkannt. Die Drohung der Zigeunermutter hatte sich erfüllt. "Kindesmörder!"

"Hängt den Kerl auf!" sagte ein Rienecker Knecht, der ihn fangen geholfen hatte. "Das wäre wohl der rechte Lohn!" entgegnete ein Diener des Herrn von Fechenbach, "allein sein braver Sohn bat sterbend für ihn um Gnade. Ich eile, meinen Herrn zu fragen." Er ist kaum fort, sagt der Rienecker: "Wofür haben wir den Schurken gefangen? Dass er uns wieder entschlüpft? Vorwärts, an den Ast mit ihm!" Die übrigen sind gleich dabei, sie binden den Hesselsmüller los und ziehen und zerren den Widerstrebenden hinaus. Und wie er auch heult und sich sträubt, in einer Viertelstunde hängt er am Birnbaum, der am Bachufer steht. So endet Jakob Hock, der Hesselsmüller.

Der Birnbaum ist längst geborsten, die Mühle abgebrochen und neu gebaut worden, aber die Sage vom Müller Hock lebt bis heute im Volk fort. Und mancher geht nachts voll Unbehagen am Mühlengrund vorüber, weil dort unten am Bach der mit ewiger Unrast bestrafte Geist des Müllers umherirren soll.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 119ff