Das Obernauer Kapellchen
Vor vielen Jahren lebte in Obernau ein Mann, der darnach trachtete, immer noch reicher zu werden. Und in seinem Hang nach Reichtum gönnte er sich kaum eine Rast und arbeitete von früh bis spät, nur in dem Gedanken, dass sich die Silbertaler in der Kommode täglich mehren würden.
So kam die Zeit der Ohmeternte [3. Heuschnitt?] wieder heran. Am 8. September, dem Feste Maria Geburt, nahm sich der Bauer vor, den Morgen darauf die große Wiese draußen am Walde zu mähen. Der Mann schlief an diesem Abend bloß wenige Stunden, stieg bereits vor Mitternacht aus dem Bett und eilte an die Waldwiese. Unter einer Eiche, die am Rande des Waldes stand, dengelte der geldsüchtige Bauer beim Mondenschein seine Sense.
Noch war die zwölfte Stunde und auch das Marienfest noch nicht herum; aber der Mann hämmerte übereifrig darauf los: Kling, kling! hallte es frech durch den Wald und über die Wiesen hin. Da ging gerade einer seiner Nachbarn aus Obernau vorbei, der bis in die tiefe Nacht hinein in einem nahen Dorfe gezecht hatte. Die beiden waren sich seit langem spinnefeind, und der Nachbar begann in seiner Trunkenheit den anderen zu hänseln und zu schelten. Ein böses Wort gab das andere, bis schließlich der Wortstreit in Tätlichkeiten ausartete, und das Ende war, dass der Obernauer reiche Mann mit der eigenen Sense erschlagen ward.
Um den doppelten Frevel zu sühnen, stifteten die Verwandten ein Muttergottesbild und stellten es bei jenem Eichbaume auf, unter dem der Obernauer am hohen Fest gedengelt hatte.
Als sich der Tag jährte, an welchem die Freveltaten geschahen, vernahmen etliche Leute bei der Mordstelle das Dengeln einer Sense, sahen aber niemand. Die folgenden Jahre hörte man an den acht Tagen vor dem Feste und noch acht Tage nachher das Dengeln von unsichtbaren Händen.
Alsdann wurde an der betreffenden Eiche unweit des Dorfes Obernau ein Kapellchen erbaut und das Marienbild darinnen bewahrt.
Gar viele leidbeladene Menschen wanderten seitdem zum Obernauer Kapellchen
und fanden in ihren schweren Heimsuchungen Trost und Erhörung.
Quelle: Spessart-Sagen,
Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 44f