Das Kind

Eine Ebersbacher Frau sammelte auf dem "Schloßberg" Heidelbeeren und hatte auch ihr Kind mitgenommen. Sie kamen in die Nähe der "alten Burg", wo Beerengesträuch in Fülle wuchs, und die Mutter pflückte fleißig Früchte in ihren großen Korb, indes sich das Kind die Zeit mit Spielen vertrieb. Es häufte bunte Steinchen aufeinander, guckte nach schillernden Käfern und schleckte auch manche Blaubeere, die ihm gerade vor dem Mund hing. Die Mutter nun geriet beim Pflücken immer weiter von ihrem Kinde ab und dachte vor lauter Eifer nicht eher wieder an das Kleine, bis sie den Korb voll Beeren hatte. Dann lief sie hin und wollte es holen; aber, o Schrecken, das Kind war nimmer da! Die Mutter rief in einem fort nach ihm und suchte den ganzen Berg ab, doch vergeblich. Das Kind blieb verschwunden, als ob es der Erdboden verschluckt hätte. Weinend ging die Mutter nach Hause und hatte jetzt keine ruhige Stunde mehr. Was war wohl mit ihrem Kinde geschehen?

Im nächsten Sommer begab sich die Frau wieder auf den Schlossberg, um Beeren zu pflücken. Als sie in die Nähe der Burg gelangte und dabei trüben Erinnerungen nachhing, hörte sie plötzlich "Mutter" rufen. "Mutter!" Herrgott, das war ja die Stimme ihres Kindes! Die Frau eilte schier atemlos an die Stelle, woher der Ruf erklang, und siehe, dort stand das Kind, unversehrt und lächelnd, wie wenn gar nichts geschehen wäre, und die Mutter es erst im Augenblick verlassen hätte. Jubelnd ergriff sie ihr Kind und lief mit ihm den Hang hinunter ins Dorf, als fürchtete sie, das Kind könne ihr noch einmal genommen werden. Den Korb mit Beeren hatte sie in der Freude vergessen. Zu Hause fragte sie das Kind, wo es die ganze Zeit gewesen und wie es ihm ergangen wäre. Allein es antwortete nichts darauf. Und sosehr man es auch weiterhin mit Fragen bestürmte, das Kind gab keine Auskunft und wusste überhaupt nicht, dass es ein langes Jahr von daheim fort war.

Die Leute meinten, eine Schlossfrau, die zauberhafterweise im Berge wohne, habe das Kind in ihr unterirdisches Reich gelockt und erst nach Jahresfrist wieder freigegeben. Jene Frau wird vom Volksmund bloß das "Aleborgfraale" [sic] genannt.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 103f