Das Kinzbachfraache

In einem Wiesental, zwischen den Ortschaften Roßbach und Sommerau, war noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein Dorf, das Kinzbach hieß und aus Ober-, Mittel- und Unterkinzbach bestand. Dann kam eine Krankheit, die wütete entsetzlich und raffte die Leute so schnell dahin, dass manche gesund aus dem Hause und über die Straße gingen und plötzlich tot umfielen. Zuletzt war bloß noch ein altes Mütterchen übrig. Das mochte nicht allein im ausgestorbenen Dorfe bleiben, es packte ein paar notwendige Dinge in ein Bündel, legte die Sonntagsgewandung an, stützte sich mit der rechten Hand auf einen Stock und wanderte mit dem Bündel in der Linken die Höhe gegen Eichelsbach hinauf. Es überlegte nicht, dass es die schreckliche Seuche mit einschleppen könnte, sondern dachte nur an seine eigene Rettung und stieg mit großer Mühe den Berg empor. Wie es vor Eichelsbach kam, an die Stelle, wo früher Flachs gebrochen wurde und ehemals die "Brechhalle" stand, verließen es die Kräfte, und es sank um und verschied. Mit der alten Frau war die Letzte des Dorfes Kinzbach weggestorben, und es kam auch niemand mehr, um darin zu wohnen. So verödete und verfiel die Siedlung, und die Bewohner der Umgebung nahmen später die Steine für ihre Häuser und Mauern. Vom ursprünglichen Dorfe war gegen Ende des 19. Jahrhunderts nichts mehr zu sehen als ein verfallener Backofen.

Jene alte Frau aber, die nicht bedacht hatte, daß sie mit ihrer Einwanderung die Pest ins Nachbardorf trüge, muss im Kinzbachtal "wewern" gehen. Das "Kinzbachfraache", wie man's in der Gegend nennt, erschreckte schon viele Leute, die zu später Nachtstunde gegen Eichelsbach gingen oder von dort nach Sommerau oder auch das Gründchen hinan gegen Roßbach zu. Das "Fraache" wäre - so erzählten nächtliche Wanderer - stets im Kreise herumgegangen und hätte mit einem Stock im Laube gewühlt. Die einen sagten, es hätte eine ganz alte Kleidertracht gehabt, die sie aber nicht genau beschreiben könnten, weil sie eilig davon strebten, und andere sagten: "Es hatte eine Bandhaube auf und einen langen weißen Rock an."

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 106f