Der Knabenraub im Spessart

Auf dem Berg zwischen Ebersbach und Soden lag eine Burg, die Altenburg genannt. Einer der Ritter, die darin wohnten, hatte zwei hoffnungsvolle Knaben. Diese wurden eines Tages von Räubern entführt. Die zwei Räuber hatten den Schlosspförtner bestochen, der ließ sie in Abwesenheit des Ritters auch ein, so dass sie die Kleinen ohne Mühe in ihre Gewalt bekamen. Hernach ergriffen sie auf den Rossen, welche sie dem Ritter aus dem Stalle holten, die Flucht. Zuvor hatten sie beschlossen, ein jeder solle nach einer anderen Gegend hin fliehen. Und sie versprachen sich gegenseitig: Wenn ja einer von ihnen ergriffen würde, so solle der nur dann den Aufenthalt des anderen angeben, wenn ihm vorher neben der eigenen dessen Begnadigung zugesagt würde.

Der eine nun war nach langem Ritt durch den Wald ermüdet, band sein Pferd an einen Baum und legte sich zur Ruhe nieder, nachdem er dem geraubten Knaben aufs strengste verboten hatte, sich zu entfernen.

Aber der Kleine benützte doch die Gelegenheit zur Flucht und entlief und lief, solange er konnte. Endlich kam er zu einem Köhler, der im Walde arbeitete. Der Köhler vermutete in dem Knaben sogleich ein Kind hoher Leute, fragte ihn aus, und der Knabe erzählte ihm den ganzen Hergang der Sache. Alsbald kehrte der Köhler mit dem Knaben an den Ort zurück, wo der Räuber noch in tiefem Schlafe lag! Da versetzte ihm der Köhler einen Schlag mit der Hacke, so dass er betäubt ward. Dann eilte der Köhler auf dem Pferde des Ritters gegen das naheliegende Dorf Ebersbach.

Von dort hörte er die Glocken, mit denen man wegen des Knabenraubes Sturm läutete. Etliche Ebersbacher Einwohner nahmen den Räuber gefangen und brachten ihn nebst dem Knaben auf die Altenburg.

Nach dem Versprechen, er werde begnadigt, wenn er seinen Kameraden angeben würde, verriet er ihn auch. Und so wurde der andere Räuber mit dem zweiten Knaben eingeholt und sofort hingerichtet. Dem ersten ward Wort gehalten, und er blieb ungestraft, hatte aber keine frohe Stunde mehr. Der Geist des verratenen Spießgesellen verfolgte ihn Tag und Nacht, bis er sich selbst das Leben nahm.

Seitdem sollen auf dem Berge, wo einst die Altenburg stand, und überhaupt auf dem Berge von Soden nach Ebersbach an gewissen Tagen und Nächten Dinge geschehen sein, die harmlose Wanderer in Angst und Schrecken versetzten. Zur Winterszeit erzählen sich die Bauern der Umgegend mancherlei darüber. So hörte ich in Leidersbach, dass zuweilen der Hufschlag eines galoppierenden Pferdes vernehmbar wäre, ohne daß weit und breit ein Pferd sichtbar sei. Und eine Frau habe bei Soden einen Mann am Baum hängen sehen. Sie rief in ihrer Furcht einige Männer herbei, aber als diese ganz nahe hinkamen, war nichts mehr zu erblicken.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 104f