Der Madstein

Zu Orb lebte vor Jahrhunderten ein junges Mädchen, das war sittsam und scheu, aber sehr arm. Vater und Mutter waren ihm gestorben, und die arme Waise musste als Magd dienen gehen. Da hatte Vroni nun das Glück, dass sie zu einem wohlhabenden Orber Bürger, namens Hans Riemer, in Dienst kam. Der genoss im Städtchen großes Ansehen, galt als ehrlich und fromm, und die Orber wählten ihn deshalb zum Pfleger ihrer bedeutenden Kirchenstiftungen.

Hans Riemer befand sich schon hoch in den fünfziger Jahren und war seit einiger Zeit Witwer. Seine Kinder hatten aus Orb hinausgeheiratet, und er hauste nun allein mit seinen Dienstboten. Das war nicht gut für den bisher so achtbaren Bürger; denn er entbrannte in heißer Begierde nach seiner Magd, die wohl zu den schönsten Mädchen von ganz Orb zählte. Vroni hielt in ihrer Herzenseinfalt das freundliche Entgegenkommen ihres Dingherrn für väterliche Zuneigung und dachte an nichts Arges. Aber mit der Zeit wurde der Mann deutlicher und verlangte schließlich in blinder Leidenschaft geradezu Unziemliches von ihr. Vroni aber wies sein Ansinnen entschieden zurück und drohte das Haus zu verlassen, wenn er nochmals mit einer solchen Zumutung an sie herantrete. Da ließ Herr Riemer sie auch künftig in Ruhe, aber in ihm selbst kochte es bei Tag und Nacht, und wie es oft so ist, die unerwiderte törichte Liebe verwandelte sich bei ihm in tiefen Hass.

Monate vergingen in scheinbarem Frieden. Da geriet an einem Sonntagmorgen ganz Orb in die größte Aufregung. Etwas Unerhörtes war geschehen. Als der Kirchner die Pfarrkirche zum Dienste des Herrn öffnete, fand er das Muttergottesbild der zahlreichen Gold- und Silbermünzen beraubt, womit es die frommen Leute der Stadt Orb geschmückt hatten. Solch ein frevelhafter Kirchenraub war in Orb noch nie vorgekommen und umso auffallender, als die Kirchentüre wohl verschlossen und auch ein Einbruch nicht sichtbar war. Erst hatte man keinen Verdacht, wer wohl den Frevel begangen haben könne. Durch eifrige Nachforschungen aber ergab sich, dass Vroni nicht nur am Abend vor der Tat spät in der Kirche gewesen war, sondern auch, dass sie allein vor dem Muttergottesbild kniend gesehen worden sei. Der Zentgraf ließ daraufhin ihr Stübchen untersuchen, und da entdeckte man zuunterst in ihrer Truhe die sämtlichen geraubten Münzen.

Vroni beteuerte ihre Unschuld; allein den vorgefundenen Beweisen gegenüber war alles vergeblich. Der Fronbote brachte sie in den Kerker, und am nächsten Tage wurde sie vorgeführt. Der Kirchenpfleger musste als Kläger auftreten, und da er auch zugleich Dienstherr war, so fiel seine Anklage doppelt schwer ins Gewicht. Der Spruch der Schöffen war bald gefällt. Der Richter verkündete das Urteil. Die Angeklagte sei des Kirchenraubes schuldig und habe ihr Leben verwirkt. Aber wegen ihres seitherigen guten Lebenswandels werde die Strafe des Stranges in die weniger schimpfliche des Schwertes umgewandelt. Vroni hatte in förmlicher Betäubung dem Gerichte beigewohnt. Dass sie verurteilt werden könnte, kam ihr in ihrer Unschuld nicht in den Sinn. Sie dachte nur an die Schande, in Gegenwart so vieler Menschen einer bösen Tat angeklagt zu sein. Als aber der Richter das Todesurteil verkündete und jedes Wort die arme Vroni wie ein Donnerschlag traf, da sank sie mit einem herzzerreißenden Aufschrei zu Boden. Man eilte ihr zu Hilfe, und als sie wieder zu sich kam, flehte sie den Richter an, das ungerechte Urteil zurückzunehmen. Es sei doch himmelschreiend, dass eine Unschuldige durch Henkershand sterben solle, und dass sie unschuldig sei, müssten ihr Gott und alle Heiligen bezeugen. Der Richter aber sprach: "Du dummes Mädchen, glaubst du, ein Urteil, das ehrenhafte Männer nach reiflicher Überlegung gefällt haben, lässt sich wenden und drehen wie eine Wetterfahne auf dem Kirchturme? Dein Recht ist gesprochen, und so wenig du imstande bist, diesen Stein von seiner Stelle zu rücken, so wenig wirst du eine Änderung des Urteils erwirken." Am Gerichtsplatz lag ein Stein, von welchem aus der Richter das Todesurteil zu verkünden pflegte. Der Stein war so schwer, dass ihn zehn Pferde nicht von der Stelle gebracht hätten. "Du Heilige im Himmel", rief Vroni, "du kennst meine Unschuld, du weißt es, dass ich lieber mein Leben gelassen, als mich an deinem Gute vergriffen hätte. Die Richter auf Erden sind so hart wie Steine, aber dein Herz, das einst in Schmerzen brach, hat Gefühle für arme Menschenkinder. Steh du mir bei in meinem großen Leid." Mutig schritt sie zu dem Stein, und was geschah? Der große, gewaltige Stein wurde von unsichtbaren Kräften aus der Erde gehoben und vor aller Augen ein Stück weit fort getragen und dann wieder an der neuen Stelle in den Boden gesenkt. Die Richter und die übrigen Zuschauer waren starr vor Staunen und konnten sich kaum fassen.

Ja, hier hatte Gott gesprochen und gerichtet, und das irdische Gericht hatte sich zu beugen. Im festlichen Zuge ward die Jungfrau wie eine Heilige nach Orb zurückgeführt.

Das wunderbare Begebnis wirkte so niederschmetternd auf den Kirchenpfleger, Maß er seine Schuld eingestand und öffentlich bekannte, dass er selber die Münzen vom Muttergottesbild entwendet und aus Rache in der Truhe seiner Magd versteckt habe.

Er sühnte sein Verbrechen mit dem Tod am Strang.

Der Stein jedoch, durch den die unschuldige Magd Vroni vom schimpflichen Tode gerettet wurde, heißt heute noch der Madstein.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 200ff