Die Maßkanne

Zum ehemaligen Kloster Himmeltal, bei dem Weindorfe Rück, gehörte eine Mühle, und die Müllersleute darin hatten ein Töchterchen, namens Kathrinchen. Dem waren die Wasserfrauen, die nächst der Mühle tief unten in einem Baume wohnten, besonders zugetan, und sie spielten öfters mit ihm und beschenkten es mit Perlen und Blumen. Wie das Mädchen heranwuchs und heiratsfähig wurde, fiel seine Wahl auf einen Musikanten, der es auch liebte und heiraten wollte. Aber sie kamen nicht zusammen, weil Kathrinchens Eltern nicht einwilligten und sagten, für einen Fiedler und Habenichts sei ihnen ihre Tochter zu gut. Und Kathrine bekam alsdann einen Schiffer zum Manne, der von Prozelten im Maingrund gebürtig war. Er übernahm die Klostermühle und wurde ein Müller. Wie nun die beiden an ihrem Hochzeitstage ganz allein des Abends spät noch an dem Bache sitzen, kommt die Wasserfrau heran - "Nunne" sagten dort die Leute - und reicht ihnen eine große schöne Maßkanne von Silber und spricht: "Da bring' ich euch auch ein Hochzeitsgeschenk. Schöpft damit alle Tag aus dem Brunnen, und der Trank soll euch wohl bekommen. Doch dürft ihr am selben Tage nicht zweimal schöpfen, das würde für euch nur von Unheil sein." Die beiden gingen sogleich am andern Tag zum Brunnen, füllten die Kanne und tranken. Und wundersam, da war es purer Wein, so gut, wie sie noch keinen genossen hatten. Und jetzt holten sie täglich einmal von dem köstlichen Trank, der sie labte und fröhlich machte. Nach etlichen Jahren besuchte sie am Abend vor Fastnacht jener Musikant, der's Kathrinchen früher heiraten wollte, und sie bewirteten ihn mit Wein aus der silbernen Kanne. Weil ihm der so gut und würzig schmeckte, bat er, sie möchten die Maßkanne noch mal füllen. Allein darauf ließen sich die Müllersleute nicht ein, sosehr er sie auch zu bereden suchte. Da ging er dann selber an den Brunnen, schöpfte die Kanne voll bis an den Rand und trank. Der Wein schmeckte wie immerund der Müller und's Kathrinchen tranken auch. Als das jedoch zufällig in die Kanne blickte, erschrak es; denn der Wein war blutrot; da erschrak der Müller auch. Der Musikant aber meinte, ihm mache das nichts aus, im Gegenteil; der Klingenberger Rote sei ihm noch lieber als der Rücker, und er trank fort und nötigte sie auch zu trinken. Wie aber der letzte Tropfen getrunken war, tat's einen Schlag, als ob das Haus einstürze. Und die Weidenbäume am Bach fingen an zu ächzen, als wenn sie eine menschliche Stimme bekommen hätten. Das Wasser hörte auf zu fließen, die Mühlräder standen still, und die Uhr hörte auf zu ticken. Und die drei saßen am Tisch, guckten einander an und wurden totenblass. Dann sprach Kathrinchen: "Mir ist's, als sollte ich sterben", und in demselben Augenblick fing der Grasstumpf an sich zu bewegen, und der Musikant sagte: "Mir ist's, als scharrten sie mich ein, aber nicht auf dem Gottesacker" - bei diesen Worten hing ihm der Arm am Leib wie abgeschlagen, und ein roter Streifen lief ihm quer über die Stirne - und der Müller sagte: "Mir ist's, als sähe ich meinen Vater sterben, und er schaute mich grimmig an und machte mir eine Faust", und als er das sagte, klang die Kanne und bekam einen blutroten Flecken.

Tags darauf wollte der Müller in den Maingrund gehen, damit ihm sein Vater sein mütterliches Erbe herausbezahle. Als er weg war, wollte das Kathrinchen auf dem Felde nachsehen, wo die Magd graste. Mit der geriet es in einen Wortwechsel, so dass die Magd mit dem Grasstumpf nach ihm hackte. Und der traf es in die rechte Schläfe, so dass Kathrinchen umfiel und auf der Stelle tot war. Der Musikant spielte an der Fastnacht im Eschauer Wirtshaus, und als die Burschen miteinander rauften, mischte er sich auch in den Streit. Da schlug ihn einer mit dem Stuhlbein den Arm ab und dann den Schädel entzwei, dass er nicht mehr aufstand - und er ward auf der Wiese begraben.

Der Müller war in aller Frühe daheim fort gegangen und kam an dem Brunnen vorbei. Dort saß die Wasserfrau auf einem Weidenstumpf, rang die Hände und weinte. Wie er sich nach ihr umsah, erblickte er sie nur noch wie in einem Nebel, aber im selben Augenblick hatte er die Kanne in seiner Hand und wusste nicht, wie er dazu gekommen war. Als er nun Eschau und den Wildenseer Grund hinter sich hatte und die Höhe erreichte, zwischen Wildensee und Prozelten, kam ihm sein Vater entgegen. Als der hörte, was sein Sohn von ihm wollte, sagte er, dass er jetzt kein Geld habe und nichts hergeben könne. Der Müller möge nur gleich wieder umkehren. Allein da ward der Müller ärgerlich, und es fielen böse Worte, bis der Alte endlich den Sohn an der Brust fasste. Da wollte ihm der Müller mit der Kanne wehren und hob sie in die Höhe. Und sonderbar! Die Kanne wurde so schwer, als wenn sie mit Blei gefüllt wäre, und bekam einen Zug wie ein Schmiedehammer und fuhr zu und zerschmetterte dem Alten den Kopf, dass er starb. Da konnte nun der Müller noch so sehr jammern und schier verzweifeln; sein Vater war tot.

Noch lange Zeit sprachen die Leute der Gegend von jener unglückseligen Tat, und an dem Platze, wo sie geschah, errichtete man einen Stein, auf dem eine Maßkanne eingehauen wurde. Dem Spessartwanderer, der von Wildensee nach Stadtprozelten oder Neuenbuch will, ist der Stein mit der Maßkanne ein willkommenes Wegzeichen.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 107ff