Der Pilgerbrunnen

Vor vielen Jahrhunderten wanderte ein Pilger auf der Straße, die durch den Spessart nach Aschaffenburg führt. Er musste von weither gekommen sein; denn er sah ganz erschöpft aus, und sein Gewand war alt und abgenützt. Die Sonne brannte ihm aufs jugendliche, blasse Gesicht, als er durchs Stadttor wankte und sich noch mühsam die steile Straße hinauf bis an die Stiftskirche schleppte. Hier aber brach er ohnmächtig zusammen. Einige mitleidige Aschaffenburger Einwohner hoben ihn auf und wollten ihm zur Stärkung einen Becher Wein reichen. Allein er schlug ihn aus, weil das gegen sein Gelübde wäre, und bat nur um einen Trunk frisches Wasser. Als sich der ermattete Pilger daran gelabt hatte, dankte er freundlich und wollte weitergehen. Da ritt der Burggraf vorbei, und er erkannte sofort, dass den Pilger ein schweres Fieber befallen hatte. Er nahm ihn mit auf die Burg, wo der Kranke ohnmächtig aufs Lager sank und erst nach Monaten wieder aufstehen konnte. Die einzige Tochter des Burggrafen pflegte ihn mit großer Sorgfalt gesund. Der junge Wanderer hatte das gute, tapfere Mädchen lieb gewonnen und verlobte sich mit ihm. Freudig gab der Burggraf seinen Segen dazu. Der fremde Pilger war nämlich niemand anders als der Junker von Schönborn. Der hatte bei einer Jagd im Westerwald einen Speer unvorsichtig geworfen und damit einen Mann tödlich getroffen. Zur Sühne solch unbedachter Tat hatte er eine Pilgerreise ins Heilige Land unternommen und befand sich nun auf der Heimkehr zum väterlichen Schlosse in den Westerwald.

Später ließ er in dankbarer Erinnerung vor der Stiftskirche einen Brunnen errichten und vom nahen Berge eine Quelle hinleiten. Weil sich an der betreffenden Stelle ein Pilger erquickt hatte, wurde der Brunnen von den Aschaffenburgern "Pilgerbrunnen" genannt.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 14 - 15.