Die Ruine im Schöntal

Es war schon dämmerig geworden, der alte Aufseher hatte den Eingang beim ehemaligen "Schwarzen Tor" verschlossen und wollte nun hinübergehen und die andere Gittertüre zumachen, die sich nächst dem früheren Herstalltore, am sogen. Stumpfen Eck befindet. Während er neben dem "Küchengarten" dahin schritt und dann in den Pfad zum See einbog, sah er unten um die Schöntalruine zwei Frauengestalten wandeln. Ich muss die Frauen aus dem Garten verweisen, dachte der Mann, und ihnen sagen, dass zugeschlossen wird. Er ging deshalb näher an die Ruine heran, und weil der Mond jetzt sein blasses Licht über Gemäuer und Pfade wob, konnte der Aufseher deutlich erkennen, dass die beiden Frauen einfache, graue Gewandung trugen, und es schien ihm ferner, als ob die Gestalten kaum den Boden berührten, sondern darüber hinschwebten. Zuerst wollte den Mann das Grauen ankommen, dann aber folgte er beherzten Mutes den Gestalten, die soeben in den Pfad einbogen, der bei der alten Stadtmauer zur Sandpforte führt. Der Aufseher nahm sich vor, die Frauen anzurufen; allein da verschwanden sie plötzlich, und er erblickte nichts mehr als die Steintrümmer und den See, auf welchem das Strahlensilber des Mondes glänzte.

Der alte Aufseher hatte bei der seltsamen Erscheinung sogleich an die grauen Beginen gedacht, die einst hier vor der Stadtmauer wohnten und Werke der Nächstenliebe taten. Sie labten die Pilger, die auf ihren Wanderungen vor Ermattung niedersanken, und sie gingen in die Häuser der Aschaffenburger, um Kranke zu pflegen. Auch vor jenen, die von der Pest befallen waren, scheuten sie sich nicht, sondern wuschen ihre Beulen und standen ihnen bei, bis diese entweder genasen oder auf die Bahre kamen. So waren die Beginenschwestern bei allen Aschaffenburgern geehrt und geliebt.

Als aber der räuberische Graf Oldenburg mit seinen zuchtlosen Truppen die Stadt heimsuchte, gerieten auch die Beginen in große Not; die plündernden Horden glaubten im Hause der Pflegerinnen und in ihrer Kapelle - Grabeskirche genannt - reiche Schätze verborgen; doch sie fanden weder da noch dort etwas Besonderes, und in ihrer Wut steckten sie das Haus und die Kapelle in Brand, misshandelten die Beginen und warfen einige in den Welzbach, der am Sandtor vorüber floss.

Auch den Beginen, die in einem Hause droben am Godelsberge segensreiche Krankenpflege übten, war es schlimm ergangen. Sie wurden von den verrohten Soldknechten in Fässer gesteckt und den Godelsberg hinabgerollt, so dass sie einen schrecklichen Tod erleiden mussten.

Von der ehemaligen Beginensiedlung ist im heutigen Schöntal kein Stein mehr zu sehen, aber die Ruine der Beginenkapelle blieb erhalten und erinnert daran, dass zu mittelalterlicher Zeit in der Stadt und Umgebung Raub und Brand gewütet haben.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 15 - 17.