Die "Schrecke-Eiche"

In Kreuzwertheim war ein Metzger namens Schreck. Der ging in einer sternhellen Sommernacht dem Dorfe Bettingen zu, um dort ein Kälbchen zu holen. Als er in die Gegend der Wettenburg kam, hörte er in den Lüften ein Lärmen und Brausen wie von einem heftigen Sturmwinde. Er konnte genau beobachten, wie sich die Gipfel des noch etwas entfernten Waldes unter dem Sturme duckten und bogen, während um ihn selbst alle Bäume still blieben und sich kein Lüftlein regte. Der Metzger verwunderte sich darüber, ging aber weiter. Gleich bei der mächtigen Eiche, nächst dem Bildstock, stellte sich ihm ein riesenhafter Mann in den Weg, der einen breiten Schlapphut trug, einen langen gewaltigen Bart hatte und große blitzende Augen. Sein Mantel schien bläulich zu sein und mit mehreren Flecken darauf, von denen einige wie loderndes Feuer leuchteten; andere glänzten schwarz wie Kohle und wieder andere funkelten und schimmerten wie blankes Gold. Unter dem Mantel aber blinkte ein Gewand hervor, das mit glitzernden Sternen besät war.

Der Metzger, sonst durchaus keine ängstliche Natur, erschrak doch, als er die Hünengestalt vor sich auftauchen sah. Er befahl sich Gott und ging geradeaus den Pfad fort. Da entwich der Fremde seitwärts ins Gebüsch. Und nun verlor der Metzger alle Furcht, dachte bei sich "Wer war das?" und bog in die alte Landstraße ein, nach der Richtung, in welcher der Fremde verschwand. Kaum war er hundert Schritte gegangen, klopfte ihm jemand auf die Schulter. Der Metzger dreht sich um, da steht ihm wieder der riesige Mann gegenüber und fängt nun zu sprechen an: "Du gefällst mir, Schreck, du bist ein Furchtloser; geh mit mir, es wird dein Nutzen sein." Und nach diesen Worten streckte er die Hand hin, die mindestens doppelt so groß war als eine Menschenhand. Allein jetzt überkam den Metzger ein Grausen, und er stammelte: "Ich gehe nur meinem Gewerbe nach, vor allem anderen behüte mich Gott." Da drohte der hünenhafte Fremde mit der Faust und sprach zornig: "So treib nur dein Kälbchen heim, du Dümmling, zum Ochsenschlachten sollst du es niemals bringen." Damit war die Gestalt weg und blieb verschwunden. Wiederum begann der Wald zu rauschen, als würde er von einem mächtigen Sturme gerüttelt. Der Metzger lief im Eilschritt nach Bettingen. Er hatte sich dermaßen entsetzt, dass er sich in der Nacht nicht mehr heimgetraute, sondern in Bettingen herbergte.

Die Vorhersage des Fremden ging in Erfüllung. Der Metzger blieb sein Lebtag in ärmlichen Verhältnissen, und es war ihm nur möglich, Kleinvieh zu kaufen und zu schlachten.

Jener Eichbaum aber, wo dem Metzger Schreck der riesenhafte Mann begegnete, hieß bis in die heutige Zeit die "Schrecke-Eiche".

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 211f