Das Glöcklein der Stromfei

Im Mittelalter hauste zu Klingenberg ein Ritter, der, wie so viele andere, in den Kampf wider die Türken zog. Und bevor er die Burg und sein junges Weib verließ, legte er diesem ein silbernes Glöcklein in die Hände und sprach dazu: "Verwahre es wohl; denn es ist ein seltsames Ding. Wenn es auch äußerlich nichts Besonderes zeigt, so birgt es doch geheimnisvolle Kräfte. Eine Wassernixe, die auf dem Grunde des Maines wohnt, hat es einst meinem Ahn geschenkt. Höre nur! Solange das Glöcklein schweigt, bin ich heil und gesund, und du brauchst nicht zu bangen. Komme ich aber in Todesnot und muss im fremden Lande sterben, dann fängt das Glöcklein wunderbarerweise von selbst zu klingen an. Und noch eines, Weib, vermelde ich dir. Wenn du mir die Treue hältst, derweil ich in die Ferne ziehe, wird das Glöcklein ebenfalls stumm bleiben und keinen Laut geben." Wenn sie ihm aber untreu würde, sprach er weiter, so würde es zu läuten anfangen, und er müsse hernach in derselben Stunde den Tod erleiden, wo er auch wäre. Denn die Stromfei hätte dem silbernen Glöckchen solchen Zauber verliehen. Nach diesen Worten küsste der edle Graf zum Abschied sein Weib und ritt zum Burgtor hinaus.

Das erste Jahr verging und das zweite. Die Frau wartete mit Sehnsucht auf des Mannes Wiederkehr. Doch kein Bote brachte irgendwelche Kunde von ihm. Still hing das Silberglöckdien an der Wand, und nur sein Schweigen gab dem einsamen Weibe Trost. Wusste sie doch, dass ihr Gemahl noch lebte. Und sie harrte noch manches Jahr, aber der Graf kehrte immer noch nicht heim und ließ auch nichts von sich hören.

Da kam ein junger Ritter auf die Burg, der eine heftige Neigung zu der schönen Frau empfand, um sie warb und sie drängte, ihm ihre Liebe zu schenken. Allein sie wies ihn ab und erzählte ihm von dem Glöckchen der Stromfei. Der junge Ritter lachte und meinte, das wäre ja doch alles nur eine Mär. Ihr Gemahl sei ganz gewiss im Kampfe gegen die Türken gefallen, sonst hätte er Nachricht verlauten lassen. Das Glöcklein habe nichts Besonderes an sich und sei ein gewöhnliches Ding wie jedes andere Glöckchen auch. Mit solchen Worten ließ sich das Weib endlich überreden, gab dem Werben des jungen Ritters nach und willigte ein, seine Frau zu werden. Doch siehe; am Tag der Hochzeit bewegte sich plötzlich das Silberglöcklein an der Wand, begann zu läuten und gab einen gar traurigen Klang. Da überrieselte eisiger Schauer die Hochzeiterin, indes das Glöckchen immerzu wimmerte und klagte. Und die Frau konnte nicht anders, sie musste es in ihre Hände nehmen. Sie stieg in ihrer Verzweiflung auf den Turm und stürzte sich mit dem Silberglöckchen in die Wogen des Maines hinab. So sank das Glöcklein, das einstige Geschenk der Stromnixe an die Familie des Grafen zu Klingenberg, wieder auf den Grund des Maines, während zur gleichen Stunde im fernen Morgenlande der Ritter von Klingenberg eines plötzlichen Todes starb.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 96f