Die Wilhelmshütte

Vor vielen Jahren war in Heigenbrücken ein junger Förster angestellt, Wilhelm mit Namen. In der Nähe des Forsthauses befand sich ein ziemlich großer Bauernhof, der gehörte dem Dorfschulzen und fiel durch besondere Sauberkeit und Ordnung auf. Das war vor allem das Verdienst der fleißigen Tochter Klara, die morgens bis abends die flinken Hände regte und nicht müde ward, das Anwesen instand zu halten.

Unweit des Schulzenhofes lag ein anderes Gehöft, das Besitztum einer Witwe, die einen einzigen Sohn hatte, der Hannadam hieß. Er war dem Wildern ergeben und streifte von Zeit zu Zeit durch den Wald, einen Rehbock abzuknallen oder sonst ein Wild, das ihm vor die Büchse geriet. Wilhelm, der junge Forstmann, und der Bauernsohn Hannadam liebten nun beide die fleißige und hübsche Klara. Keiner aber wusste bestimmt, ob er Gegenliebe fände. Allerdings hatte Wilhelm schon bemerkt, dass Klärchen, wenn sie an dem Forsthause vorbeiging, scheu aufblickend sein Auge streifte und dann errötend die langen Wimper niederschlug. So durfte er hoffen, das Mädchen für sich zu gewinnen.

Der Spessarter hält in der Regel zu viel Vieh; da reicht der Wieswachs für das nötige Futter nicht aus, und das Laub und die Gräser des Waldes müssen dann zur Fütterung der Tiere verwendet werden. Das Grasrupfen in den Schlägen ist eine mühselige Arbeit und wird meist von den Mädchen und Frauen besorgt, die das Waldgras in schweren Lasten oft stundenweit auf dem Kopfe nach Hause tragen.

Eines Tages muhte auch Klärchen, deren Vater einen großen Viehstand hatte, ins Grasrupfen gehen. Es war ein schöner Julitag, und die Sonne brannte heiß vom Himmel.

Klärchen, von ihrer Arbeit ermüdet, setzte sich, um zu ruhen, auf ihr schwellendes Grastuch. Da teilten sich die Fichtenbüsche, und Jäger Wilhelm trat unverhofft zu der errötenden Jungfrau und bat sie, ihm einen Platz neben ihr auf dem Grasbündel einzuräumen, was das Mädchen freundlich zugestand. Nun folgte zuerst eine verlegene Pause; dann entwickelte sich ein Zwiegespräch, und am Ende stand die feierliche Versicherung, dass sie sich innig lieb hätten und ohne einander nicht leben könnten. Wilhelm erzählte dabei dem Mädchen, er habe Aussicht, die Wildmeisterstelle in Heinrichstal zu erhalten, und dann werde er Klärchen heimführen als seine Hausfrau. Hand in Hand verließen Wilhelm und Klärchen die junge Fichtenschonung und traten auf den breiten, nach Heinrichstal führenden Fahrweg. Dort begegnete ihnen Hannadam, der wieder einmal auf seinen Waldstreifungen war und das glückliche Paar, heimliche Flüche murmelnd, mit bösen Blicken verfolgte.

Es war im November, kurz vor der Adventszeit. Dem klaren Tag folgte eine Vollmondnacht. Klärchen hatte eine Bestellung in dem Pfarrdorfe Wiesen ausgerichtet und eilte durch die stille Nacht in ihr Heimatdorf zurück, weil sie wusste, dass sie von ihrem Wilhelm unterwegs erwartet wurde. Der hatte sich am Rande einer Fichtenkultur, durch die der Weg führte, aufgestellt, wo sich ein runder Pflanzgarten befand. In der Mitte stand eine Hütte und davor eine Moosbank. Auf diese zog Wilhelm das herankommende Mädchen, und sie hatten sich so viel Liebes zu sagen, dass ihnen die Zeit wie im Fluge dahinschwand.

Da drang plötzlich Hundegebell durch den Forst und störte die zwei, die sich umschlungen hielten und einander innige Worte zuflüsterten von ewiger Liebe und Treue. Wilhelm, dessen Gehör durch den Jagddienst sehr geschärft war, hörte tastende Schritte nahen. Er bog die jungen Fichten auseinander und erblickte im Mondlicfat den Hannadam, der mit einem starken Rehbock auf dem Rücken daherkeuchte. Der Jäger erhob sich blitzesschnell von der Bank; er vergaß in seinem Pflichteifer ganz, dass er unbewaffnet war, sprang auf den Wilddieb zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und rief: "Im Namen des Gesetzes, du bist verhaftet!" Hannadam riß sich mit einem kräftigen Rucke los, warf schnell den Bock ab, und es gelang ihm bei dem entstehenden Geraufe, sein Gewehr auf die Brust des Jägers zu setzen. Er drückte ab, und ein Knall durchhallte die Nacht. Mit einem Aufschrei stürzte Wilhelm tot nieder. Klärchen stand abseits und war vor Schrecken zunächst wie erstarrt. Dann trat sie heran und rief: "Hannadam, du Mörder meines Glückes, ich werde dich der irdischen Gerechtigkeit überliefern!"

Durch das unerwartete Erscheinen des Mädchens kam Hannadam erst zum Bewusstsein, was er getan hatte. Da packte ihn die Angst und Verzweiflung, er richtete das doppelt geladene Gewehr auf die eigene Brust und drückte ab. Stöhnend sank er zusammen. Klärchen aber fluchte in ihrer Trostlosigkeit dem Sterbenden und rief ihm zu, dass er samt seinem Hunde jedes Jahr zur Zeit seiner unglücklichen Tat umwandern müsse und keine Grabesruhe fände. Und vor Aufregung sank sie, von einem Herzschlag getroffen, leblos an der Seite ihres toten Wilhelm nieder.

Am nächsten Tag, in der Frühe, fanden Holzarbeiter die drei Leichen und brachten sie nach Heinrichstal. Daselbst wurden Wilhelm und Klärchen in ein gemeinsames Grab gebettet, während man Hannadam in einer Ecke einscharrte.

Wenn nun einsame Wanderer in der Adventszeit bei mondhellen Nächten an dem Ort der schrecklichen Tat vorübergehen, hören sie zuerst den entfernten Laut eines jagenden Hundes, der immer näher kommt und dann mit wildem Gebell die Fichtenpflanzung umkreist. Auch sieht man eine gespenstische Gestalt hin und her irren; das ist der Geist des zum Mörder gewordenen Hannadam, der Verzeihung und Frieden sucht, bisher aber noch nicht gefunden hat.

Quelle: Spessart-Sagen, Valentin Pfeifer, Aschaffenburg 1948, S. 179ff