Die Königswahl der Vögel.

Um eine Zeit, da alle Vögel versammelt waren, kamen sie überein, dem ordnungslosen und wilden Zustande ein Ende zu machen und sich einen König zu wählen; da wurden denn mancherlei Stimmen abgegeben, und dieser schlug den, der andre den vor, so daß man zu gar keiner Uebereinstimmung kommen konnte und zuletzt beschloß, man wolle einen Wettflug entscheiden lassen; es sollte nämlich der der König werden, welcher am weitesten in die Sonne hinein fliegen könne. Da erhob sich denn all das Flügelgethier und es ging an ein tüchtiges Flügelregen, allein gar mancher blieb bald zurück, und zuletzt war allein der Adler weit vorauf und flog immer höher und höher; endlich aber erblindeten auch ihm fast die Augen und er sah sich genöthigt umzukehren; im selben Augenblick aber flog der Zaunkönig, der sich bisher unter seinem Flügelgelenk versteckt hatte, hervor flog noch höher hinauf, und so wars nun klar, der Zaunkönig mußte der König aller Vögel werden. Das verdroß aber die übrigen, daß sie einen so winzigen König haben sollten, der noch dazu die Würde durch List erschlichen, und sie fuhren, als er nun herabkam, mit ihren Schnäbeln und Krallen gewaltig auf ihn los und hätten ihn schier zerhackt, wäre er nicht in ein Mausloch geflogen und hätte sich da versteckt. Da sammelten sich denn alle Vögel um dasselbe und belagerten ihn in seiner Festung, um ihn da verhungern zu lassen, aber mit der Zeit wurds ihnen doch zu schwer, denn sie dachten, wie ihre Kleinen in den Nestern daheim nach Futter schreien würden, und deshalb setzten sie die Eule als Wächter vor das Mausloch. Die saß auch die ganze Nacht davor und schaute mit ihren großen Augen hinein, welche so feurig waren, daß es dem Zaunkönig ordentlich grausig wurde; als aber der Tag kam, ward sie von dem Licht geblendet und die Augen sanken ihr zu. Das erschaute sogleich der Zaunkönig und flog eilends davon, und sie haben ihn nimmermehr wieder gefangen. Die Eule hat aber das Bad austragen müssen, denn die Vögel könnens ihr bis auf den heutigen Tag noch nicht vergessen, daß sie den gefangenen König hat entfliehen lassen, und darum hacken sie auf sie los mit ihren Schnäbeln, wo sie sich nur blicken läßt.

Quelle: Kuhn, Adalbert, Märkische Sagen und Märchen nebst einem Anhange von Gebräuchen und Aberglauben. Berlin, 1843. Nr. 12, S. 452.