Das Steinkreuz an der Marienkirche

Am Turmeingang der Marienkirche steht ein Steinkreuz, das ist fast siebenhundert Jahre alt. An dem bemerkt man vorn fünf Löcher; darin waren früher die Eisenstäbe der "ewigen Lampe" eingelassen, die Tag und Nacht brennen musste. - Über die Gründe, weshalb das Kreuz gesetzt wurde, wird mancherlei erzählt:

So soll einst ein Baumeister, als die Kirche fast vollendet war, sich mit dem Teufel eingelassen und im Kartenspiel die gesamten Baugelder verloren haben. Der Teufel gab ihm zwar alles zurück; doch musste der Baumeister dafür versprechen, beim Bau der Gewölbe einen Fehler zu machen, so dass diese am Einweihungstag über den Gläubigen zusammenbrächen. Denn der Teufel hasste die frommen Leute.

Der Baumeister dachte aber den Teufel zu betrügen und führte die Gewölbe vorschriftsmäßig auf. Als nun die Einweihungsfeier vorüber war, lauerte der Teufel an der Tür. Zuletzt kam der Baumeister heraus. Da griff der Teufel zu und drehte ihm den Hals um. Zum Andenken daran soll das Kreuz errichtet worden sein.

Die meisten aber halten das Kreuz für ein Wahrzeichen aus der Zeit der Markgrafen und sagen, die Berliner hätten es zur Strafe oder Sühne setzen müssen, weil das Volk den Propst von Bernau erschlagen habe. Das wird schon seine Richtigkeit haben. Aber was erregte die Berliner so, dass sie sich zu einer so unseligen Tat hinreißen ließen? Darüber berichtet die Sage:

Propst Nikolaus von Bernau soll in Berlin den Zehnten mit großer Härte eingetrieben und sich dadurch verhasst gemacht haben. Doch heißt es auch, er sei ein Anhänger des Herzogs Rudolf von Sachsen gewesen, der nach Markgraf Waidemars Tod Ansprüche auf die Mark machte, während die Berliner zu ihrem Landesherrn, dem Markgrafen Ludwig dem Älteren, hielten. Da erschien Propst Nikolaus in Berlin, ging in die Marienkirche und hielt eine donnernde Rede gegen die Berliner, weil sie den Herzog Rudolf nicht anerkennen wollten. Dabei nannte er sie "Verblendete" und "Schurken". Es war aber an dem Tag gerade Markt in Berlin, und viele Menschen hatten sich auf dem Platz bei der Marienkirche eingefunden. Bald pflanzte sich die Rede des Propstes von Mund zu Mund fort bis zu der Menge draußen auf dem Markt. Die Leute drangen in die Kirche, holten den Propst von der Kanzel, zerrten ihn bis zur Tür und erschlugen ihn. Dann errichteten sie auf dem Neuen Markt einen Scheiterhaufen und verbrannten die Leiche. Das geschah wahrscheinlich am 16. August 1325. Es wird auch gesagt, der Propst habe zwar noch Zeit gehabt, in die Propstei zu flüchten, sei aber von dem wütenden Volkshaufen herausgeholt und auf dem Neuen Markt lebendig verbrannt worden.

Nun wurde der Bann über Berlin ausgesprochen: Es durften keine Glocken geläutet, Brautpaare nicht getraut, Kinder nicht getauft werden, und kein Priester folgte dem Sarg. Erst zehn Jahre nach dem Mord wurde festgesetzt, dass die Berliner zur Sühne eine hohe Summe Goldes zahlen, in der Marienkirche einen neuen Altar bauen und an der Stelle des Mordes ein zwei Faden (drei bis vier Meter) hohes Steinkreuz mit einer ewigen Lampe errichten sollten. Trotzdem lastete der Bann noch weitere zwölf Jahre auf der Stadt.

Vermutlich ist das Kreuz, obwohl es nicht zwei Faden hoch ist, doch das ursprüngliche und damit das älteste Denkmal Berlins. Wo es aber zuerst gestanden hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Vielleicht stand es mitten auf dem Neuen Markt, vielleicht auch in der Spandauer Straße. Denn dort wohnte später ein Schmied, der nach der ewigen Lampe der "Lampenschmied" genannt wurde. 1726, heißt es, kam das Kreuz dann an das Westportal der Marienkirche.

Quelle: Siegfried Armin Neumann, Berlin, Sagen und Geschichten, Schwerin 2004, S. 12 - 13.