Der Thürträger in der Wallstraße.

Eins der ältesten Wahrzeichen der Stadt Berlin befindet sich am Hause No. 25 der Wallstraße. Es ist der sogenannte Thürträger und besteht in einem Relief, auf welchem ein nackter, nur mit einem Schurze um die Hüften versehener kräftiger Mann dargestellt ist, welcher den Flügel eines Stadtthores mit gewaltigen Riegeln auf seinem Rücken von einer im Hintergrunde sichtbaren Stadt bergaufwärts zu tragen scheint. Nach der prosaischen Erklärung wäre dies weiter nichts als die Abbildung des Simson, der nach der Bibel (B.d. Richter XVI, 3) die Thorflügel der Stadt Gaza auf die Höhe von Hebron trug, und würde sich als eine Gedenktafel auf das früher gestandene Köpenicker Thor (dieses verschwand um 1735) beziehen, wie denn in demselben Hause, welches eben jetzt noch dieses Bildwerk trägt, die eisernen Haspen von dem abgetragenen Thore aufbewahrt werden sollen.

Die Sage selbst aber, wie sie noch im Munde des Volkes lebt, lautet freilich anders. Es lebte nämlich einst in der Stadt Berlin ein armer Schuhmacher, der aber sehr sparsam war und was er sich und seiner Familie am Munde abdarben konnte, hinlegte, um sich ein Lotterieloos kaufen zu können, weil er sich einmal fest eingebildet hatte, auf diesem Wege allein sey es ihm beschieden reich zu werden. Endlich hatte er auch das nöthige Gelb beisammen, kaufte sich ein Loos, und als der Tag der Ziehung gekommen war, eilte er auf das altköllnische Rathhaus, wo dieselbe stattfand, um selbst anwesend zu sein, wenn sein Loos mit einem Gewinn herauskäme. Siehe da, seine Ahnung ging in Erfüllung, er hörte seine Nummer ausrufen und gleich darauf den höchsten Gewinn. Er eilte spornsteichs nach Hause, theils um sich zu überzeugen, daß er auch wirklich die glückliche Nummer im Besitz habe, theils um sein Loos herbeizuholen. Allein nicht wenig erschrack er, als er dasselbe nicht mehr an seinem Orte fand, er schaute sich überall um, und wie ward ihm, als er dasselbe plötzlich an der Stubenthüre haftend erblickte. Eins seiner Kinder hatte sich in seiner Abwesenheit den Spaß gemacht, das Loos mit Schusterkleister an die Thüre zu kleben. Er versuchte es anfangs mit Wasser abzulösen, allein dies gelang ihm nicht, und da er sich nicht anders zu helfen wußte, so hing er die Thüre aus, nahm sie auf den Rücken und trug sie auf das Rathhaus, um sich so als Besitzer des Glückstreffers zu documentiren. Trotz der sonderbaren Form der Aufbewahrung des Looses erhielt er aber seinen Gewinn ausgezahlt, baute sich ein eigenes Haus und ließ sich selbst über der Thür desselben als der entschlossene Thürträger mit dem Loose, das der Beschauer aber freilich nicht sehen konnte, in Stein aushauen.

Quelle: Grässe, Johann Georg Theodor, Sagenbuch des Preußischen Staates, Glogau, 1868/71, S. 154.