KINDESHAND, DIE SICH AN DER MUTTER VERGREIFT, WÄCHST ZUM GRABE HERAUS

Zu Anfang des 14. Jahrhunderts wohnte eine arme Witwe in der Nähe des Jodenbergs vor dem Doventhore in einem Häuschen, das ihr die reiche Schwanke geschenkt hatte, die Frau Conrads von Verden, bei deren Eltern sie lange Jahre als treue und fleißige Magd gedient hatte, weshalb sie auch in ihren alten Tagen von dieser mancherlei Unterstützungen erhielt. Freilich hatte sie eine Tochter, die in der Stadt an einen wohlhabenden Mann, einen Gerber, verheirathet war; aber dieselbe war von harter und stolzer Gemüthsart, und als der Rath zu jener Zeit den Gerbern ihre Rolle gab, wodurch sie die Berechtigung erhielten, in Zukunft eine Zunft zu bilden, so fuhr der Hochmuthsteufel so ganz und gar in die neue Frau Meisterin, daß sie sich der Mutter schämte und ihr am Ende sogar verbot, je wieder ihr Haus zu betreten.

Die alte Frau war stumpf und gebrechlich, selbst mit dem Spinnen wollte es nicht mehr vorwärts, und sie hätte umkommen müssen ohne die Hülfe fremder Leute. Aber das nahm ein Ende mit Schrecken, als der mächtige Conrad von Verden, der sich in Verbindung mit seinen reichen Vettern mehrere Gewaltthaten erlaubt hatte, mit seiner ganzen Sippschaft und der Stadt vertrieben wurde. Da konnte sie nicht mehr mit ihrem Henkeltopf hingegen, um von der Frau Schwanke die Ueberbleibsel des Mittagsmahles zu holen, wie sie seit Jahr und Tag gewohnt war, und nun trieb sie die bittere Noth, die Mildthätigkeit ihrer Tochter in Anspruch zu nehmen; es war ein harter Schritt für sie, und mit zitternder Hand langte sie nach dem Stabe, womit sie ihren schwankenden Gang schon seit längerer Zeit zu unterstützen gezwungen war. Unterwegs stand sie mehrmals still; sie fürchtete einen heftigen Auftritt mit ihrer Tochter, und überlegte, ob es nicht gerathener sei, ihre Noth jedem Andern zu klagen, als eben ihrem Kinde, als sie plötzlich vor dem Hause ihres Schwiegersohns stand. Noch einen Augenblick war sie unschlüssig; dann aber ermannte sie sich und trat hinein. »Ist sie doch meine Tochter, mein einziges Kind,« murmelte sie leise vor sich hin: - »Gott der Herr und der heilige Willhadus werden ihren harten Sinn ändern.«

Sie trat in die Wohnstube, wo sie die ganze Familie beim Mittagsessen vereinigt fand. Sie war zuerst sehr verlegen, sie, in so ärmlicher Kleidung, diesem Reichthum gegenüber, wovon das Hausgeräth und die ganze Einrichtung zeugten, und rang vergebens nach Worten, um ihr Anliegen vorzubringen. Als sie sich darauf etwas gesammelt hatte, schilderte sie in einfacher, ungekünstelter Rede die Hoffnungslosigkeit ihrer Tage, auf die ergreifendste Art.

Dem Schwiegersohn trat das Wasser in die Augen; aber er war ein schwacher Mann, der sich von seiner Frau ganz beherrschen ließ und um Alles in der Welt nicht gewagt hätte, eine selbstständige Verfügung zu treffen, wie sie sein Herz ihm gebot; denn er würde mit Freuden die alte hülflose Frau zu sich ins Haus genommen haben, hätte es einzig von ihm abgehangen. So aber schaute er erst fragend zu seiner Frau hinüber, ob er auch ihrer Zustimmung gewiß sein könne. Aber Entsetzen ergriff ihn, als er ihr Gesicht sah. Es war ihm nichts Neues, daß sie selbst bei geringen Anlässen in heftigen Zorn gerieth; aber eine solche Wuth, eine solche widerliche Verzerrung ihrer Züge hatte er noch nie gesehen. Es war, als wenn bei dem Anblick ihrer Mutter ein böser Geist in sie gefahren sei; die Röthe des aufwallendes Zorns wich einer fahlen Leichenblässe und mit den funkelnden Tigeraugen schien sie das Wesen, dem sie ihr Leben und Dasein verdankte, das mit mütterlicher Fürsorge ihre Jugend behütet und in kranken Tagen sie so treu gepflegt hatte, durchbohren zu wollen.

Erschrocken sieht sich die Alte nach einem Stuhl um, denn ihre Kräfte drohen sie zu verlassen. Bei dem Manne siegt in diesem Augenblick das menschliche Gefühl über die Furcht vor seiner Frau, und er eilt hinzu, um die Halbohnmächtige aufzufangen. Bis dahin hat die Meisterin ruhig dagesessen, ohne ein Wort zu sprechen oder sich nur zu rühren. Jetzt mit einem Male kömmt ihr Grimm zum Ausbruch, wie ein zermalmendes Gewitter, das schon eine Zeitlang drohend am Himmel gestanden. Sie stößt ihren Mann mit Riesenkraft zurück und stürzt sich wüthend auf die eigene Mutter, wie ein wildes Thier, um sie zu mißhandeln, weil sie es gewagt, gegen ihr ausdrückliches Verbot vor ihr zu erscheinen. Sie schlägt sie mit Fäusten und wirft sie endlich zur Stubenthür hinaus.

Da lag sie auf der Hausflur, das Gesicht zur Erde gewendet; sie regte sich nicht mehr, und vergebens war die Aufforderung der Tochter, aufzustehen. Der unnatürliche Zorn der Letztern ist plötzlich verraucht bei diesem jammervollen Anblick; ihr ist, als werde ihr in diesem Augenblick eine Decke vor den Augen weggezogen, als werde sie jetzt erst inne, gegen wen ihr blinder Jähzorn gewüthet.

»Mutter!« rief sie, entsetzt über ihr Beginnen - »Vergieb mir! komm an das Herz deiner sündigen, reuigen Tochter. Bei Gott und allen Heiligen, wenn die zarteste Sorgfalt, die liebevollste Pflege im Stande ist, das Andenken an den greuelvollen Frevel aus deinem Gedächtniß zu vertilgen, so sollst du ihn vergessen.« Von tiefstem Mitleid ergriffen, beugte sie sich über die Unglückliche, um sie aufzurichten; nie wollte sie sich wieder von ihr trennen und ihr nie wieder Anlaß zur Klage geben. Aber diese Sinnesänderung kam zu spät und mit Schrecken bemerkte sie, daß sie ihre Liebkosungen an eine Leiche verschwendete. Dem irdischen Richter entging die Meisterin; denn es stellte sich heraus, daß die Alte nicht sowohl in Folge der Mißhandlung, als vielmehr vor Angst und Schrecken gestorben sei. Es wohnt aber ein Richter über den Wolken, der sich im Lohnen und Strafen durch keine irdischen Rücksichten und Spitzfindigkeiten bestimmen läßt. Die Meisterin starb bald darauf eines jähen Todes, und mit Grauen bemerkte der Todtengräber einige Tage nach der Beerdigung, daß die Begrabene ihre Hände, womit sie ihre Mutter gemißhandelt hatte, zum Grabe herausstrecke, wie dies Wunder noch heut zu Tage, in Stein verewigt, im Domsumgange zu sehen ist.


Quelle: Friedrich Wagenfeld, Bremen's Volkssagen, Bremen 1845, Erster Band, Nr. 2