DAS GRAUE MÄNNCHEN

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts sind einmal unterschiedliche boineburgische Jäger an einem nassen Herbsttage auf dem Burgberge zusammengekommen und haben Schutz vor dem Regen in den Trümmern des alten Schlosses gesucht. Da fanden sie ein altes kleines graues Männlein mit schneeweißem Haar sinnend auf Moos und Steinen sitzen. Sie redeten es an, fragten es dies und das, allein das Männlein gab ihnen keine Antwort. Darüber wurden die Jäger böse und gaben dem Männlein einige Schläge, aber es verzog darob keine Miene, weder zum Lächeln noch zum Schmerz, es blieb sein Antlitz still und kalt und sein Mund geschlossen. Da banden sie das Männlein mit Hundeleinen und führten es also gefesselt herab zu ihrem Herrn nach Reichensachsen, da sollte es, meinten sie, schon Rede und Antwort geben, allein es tat dies ebensowenig als droben. Es nickte nicht und schüttelte nicht, es öffnete nicht den Mund, es deutete auch keinen Wunsch an, rührte auch nicht an Trank und Speise, achtete keiner Freundlichkeit und keines Zürnens. Nun dachten die Herren, die Zeit werde es schon mürbe machen, sperrten es in ein wohlverwahrtes Gemach, ließen dieses zum Überfluß von außen bewachen, aber am andern Morgen - andere sagen, nach drei Tagen - da war das Männlein verschwunden, hatte aber zum Andenken ein Vergißmeinnicht auf den Tisch gesetzt, das jenem Veilchen täuschend ähnlich sah, welches ein gewisser Hofnarr zu Meißen unter den Hut des Hofmeisters legte, der über das erste gefundene Veilchen gedeckt war; als welche sonderbare Historie im Treppenhaus des Meißner Schlosses in Stein gehauen zu erblicken ist.


Quelle: Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853