ALLGEMEINES

Die Winde, welche über die Erde dahin brausen, die Wolken, welche der Sturm vor sich her treibt, die Gestirne, welche am Himmelszelt ohne Ruhe und Rast ihre Bahn durchmessen, sie alle galten dem kindlichen Glauben unserer heidnischen Vorfahren für belebte Wesen, und trotz des naturwissenschaftlichen Unterrichtes, der heutiges Tages jedem Kinde, auch des entlegensten Dörfchens, zu teil wird, giebt es in Pommern noch jetzt gar manche Leute, welche an diesem von den Vätern ererbten Glauben treu und fest hangen. Ihnen ist der Wind ein launenhafter, riesischer Geist, mit dem sich gut zu stellen man allen Grund hat.

Wenn die Schiffer der Oderkähne oder die Fischer Windstille bekommen, so legen sie sich mit gekreuzten Armen über den Bord des Schiffes, flöten aus Leibeskräften und rufen dann stark accentuiert: "Bris kumm! Bris kumm!" Kommt dann wirklich ein Windstoß, so wird das nur dem Flöten und Rufen zugeschrieben.
Einige gebrauchen dabei, wie Temme berichtet,10 noch besondere Vorsicht. Weil niemand wissen kann, ob der Wind nicht gar zu stark werden wird, so sprechen sie ihm zwischen dem Pfeifen Schmeichelworte zu, z.B. "Kumm ölt Broederken! Kumm olle Junge!"

Ältere Schiffer brauchen gar nicht einmal zu pfeifen, um den Wind zu locken. Sie sind mit ihm schon bekannter, stellen sich nur an's Steuer und rufen einige Male: "Kûl up, oll Vadder! Kûl up! Kûl up!" Binnen einer Viertelstunde erscheint dann gewiß der gewünschte Wind. Sie dürfen aber nur halblaut und in schmeichelndem, vertraulichem Tone rufen, denn sonst möchte er doch etwas zu gewaltig kommen.

Wer es unternehmen wollte, den Leuten diesen Glauben zu rauben, der wird im günstigsten Falle ein spöttisches Kopfschütteln als Antwort erhalten, wenn nicht gar die Männer ihrem Unwillen über diesen krassen Unglauben auf kräftigere Weise Luft machen. Selbst die Anwesenheit eines Zweiflers könnte ja vielleicht dem gestrengen Herrn Wind seine Laune verderben, tritt sein Zorn doch schon bei weit geringeren Anlässen ein. Redet man z.B. von ihm, wenn er gerade günstig weht, so ärgert er sich und schlägt sofort um. In gleicher Weise kann er nicht vertragen, wenn jemand die Besorgnis äußert, daß er bald umschlagen möchte. Wer aber im Vertrauen auf des Windes Beständigkeit sich ausrechnet, wie bald er am Ziele sein werde, der kann ganz gewiß sein, daß er sich verrechnet hat und die doppelte Zeit zusetzen muß.

Trotz seines wetterwendischen, launenhaften Gemütes gilt der Wind für verheiratet und obendrein für einen sehr gehorsamen Ehemann, der den Vorstellungen seines Weibes gewissenhaft nachkommt und auf ihren Rat hin manchen Schaden, den er dem Menschen zugefügt hat, wieder gut macht. In der Cösliner Gegend weiß man auch, woher diese Frau Windin stammt; denn auf die Rätselfrage: "Wo hat der Wêjer (d.i. der Wind) seine Frau hergeholt?" lautet die Antwort: "Aus Rußland."

Streng unterschieden von dem Wind und seiner Gemahlin wird der Wirbelwind (Kuesel-oder Kaekwind). Daß das nur der Teufel selber sein kann, darüber ist man sich einig, und man nennt deshalb die Erscheinung kurz und bündig: "Dei Duevel danzt." Von außen sieht ein solcher Staubwirbel freilich nur so aus, wie ein Schiff mit vollen Segeln, die sich im Sturme drehen, zieht man aber die Jacke aus und blickt durch den umgekehrten linken Ärmel, so kann man genau den Bösen erkennen, wie er mit einem Besen auf der Erde tanzt. Auch dann muß sich der Teufel zeigen, wenn man ein Messer mit einem Kreuz oder einen Holzpantoffel rücklings in den Wirbel hineinwirft. Tritt man aber zu nahe heran und gerät in den Wirbel hinein, so wird man von dem Bösen mit fortgenommen, und mit dem Leben ist's aus.

Während die heidnischen Vorstellungen vom Wind und Wirbelwind noch sehr verbreitet sind unter dem Landvolk und den Fischern, ist der Glaube an Geschöpfe, welche die Wolken bewohnen, mit ihren Wolkenschiffen durch die Lüfte segeln und dabei Regen und Gewitter auf die Erde herabsenden, dem Erlöschen nahe. Die Sagen Nr. 56 und 57 sind das Einzige, was ich über die Luftschiffer noch aufgefunden habe, und wenn die Leute auch nicht die Wahrheit der Geschichten anzuzweifeln wagten, so hielten sie doch dafür, daß jetzt alle Luftschiffer ausgestorben seien.

In ähnlicher Weise beginnen auch die Sagen über die Gestirne dem Volksgedächtnis zu entschwinden oder in das Gebiet der Ammenmärchen überzugehen. Nur vereinzelt finden sich noch Gläubige und auch denen fängt die Sache an zweifelhaft zu werden. Moderne Volksschulbildung und der alte Volksglaube kämpfen eben einen zu ungleichen Kampf.

Anmerkung 10: Temme, Volkssagen von Pommern und Rügen, S. 348 fg.

Volkssagen aus Pommern und Rügen, Ulrich Jahn, Berlin 1889, Nr. 53