Der Zwerg und das Fräulein im Berg bei Quartzau
Sie hausten zumeist im Innern der Berge und Hügel, das Zwergenvolk
der "Unnererdschen". Vieles Geheimnisvolle und Neckische wurden
ihnen zugeschrieben. Für die Menschen waren sie in der Regel unsichtbar,
und ihr Dasein war nur an den Folgen ihrer unterschiedlichsten Aktivitäten
erkenntlich. Sie belohnten und bestraften dabei die Menschen nach ihren
Gesetzen, so wie es einst an dem Berg bei Quartzau passierte.
Es lebte derzeit in Quartzau ein nicht mehr ganz junges Fräulein,
das als Wahrsagerin in den umliegenden Dörfern bekannt war. Man suchte
sie auf, wenn man sich den Kopf darüber zermaterte, was das Schicksal
wohl noch für einen bereit hielt. Das war kein sehr einträglicher
Beruf. Die Menschen hatten selbst nicht viel, und nur für ein paar
Worte, von denen man zunächst noch nicht wußte, ob sie eintrafen,
konnte man nicht soviel ausgeben.
Wenn das Fräulein wegen eines Rates aufgesucht wurde, zeigte es sich
aber stets sehr großzügig. Die Frau war sehr beliebt, weil
sie jedem noch eine Kleinigkeit in die Hand drückte, die sein Herz
erfreute. Armen Leuten schenkte sie sogar kostbaren Schmuck, den diese
sich niemals hätten leisten können. Auf diese Weise wuchs natürlich
ihr Ansehen ringsum, und ihre Beliebtheit breitete sich aus.
Jedoch wunderten sich die Menschen und rätselten untereinander, woher
die vielen Dinge wohl kamen, die die Wahrsagerin so mit freigiebiger Hand
verschenken konnte. Stellte jemand ihr diesbezüglich eine direkte
Frage, entgegnete sie geheimnisvoll lächelnd: "Das bringen mir
die Geister".
Sie hatte aber eine Freundin, die viele ihrer einsamen Stunden mit ihr
teilte. Die hatte sie auch schon oft nach der Quelle ihrer Schätze
gefragt, und sie war ihr die Antwort stets schuldig geblieben. Als sie
eines Abends wieder zusammen saßen und das Gespräch in diese
Richtung gelenkt wurde, verriet sie jedoch unter dem Siegel der Verschwiegenheit
ihr Geheimnis ihrer Vertrauten, weil sie dachte: "Wer soll das schon
merken?"
Ein paar Tage später begab sie sich wieder auf den altbekannten Weg
durch den Wald zu dem bestimmten Berg. Hier nämlich wohnte ihr langjähriger
Wohltäter, ein Zwerg. Sie hatte ihm bei ihrer ersten Begegnung versprechen
müssen, daß sie niemandem verraten würde, daß der
Kleinwüchsige ihr, so oft sie sich trafen, aus dem schier unerschöpflichen
Brunnen seiner Schätze schenkte, was und wieviel sie sich wünschte.
Nun stand das Fräulein vor dem Berg und bat um etwas Geld, weil die
Leute es von ihr erwarteten und sie auch schon vielen manches versprochen
hatte. Aber soviel sie sich auch mühte, der Berg blieb still. Es
rührte sich nichts. Die Tür der unter den Ästen versteckten
Grube öffnete sich nicht, weder der Zwerg noch etwas Blitzendes kam
heraus.
Das Fräulein war unglaublich betroffen, denn als sie ein wenig nachdachte,
mußte sie einsehen, daß sie dieses Verhalten selbst verschuldet
hatte. Bei dem stillen Gespräch unter vier Augen hatte sie tatsächlich
das Wort gebrochen, das sie einst gegeben hatte.
Verzweifelt warf sie sich auf die Knie und weinte und flehte vor der Tür
des Berges um erbarmen. Plötzlich öffnete sich knarrend ein
Spalt des Türchens, und eine kleine starke Hand zog die Klagende
zu sich in den Berg hinein. Von dieser Zeit an hat sie niemand mehr gesehen.
Es kann sein, daß sie in dem Berg bei Quartzau heute noch lebt,
weil sie auch von niemandem befreit werden konnte.
Quelle: Hannelore Hilmer: Die schönsten
Sagen und Geschichten des Hannoverschen Wendlandes. Lüchow 1996,
S.74-75.
Die Sagen der Lüneburger Heide wurden
von Etta
Bengen gesammelt und für SAGEN.at
zur Verfügung gestellt.
© der Zusammenstellung: Etta
Bengen