DIE GERTRUDENLINDE

Auf dem Kirchhofe zu Oldenburg, unmittelbar vor der Gertrudenkapelle, steht eine große alte Linde. Etwa zehn Fuß vom Boden entsendet, der dicke knorrige Stamm, dessen Umfang 15 - 16 Fuß [1 Oldenburger Fuß = 0,2958 m] beträgt, nach allen Seiten hin ein breites Laubdach, etwa 40 - 50 Fuß im Durchmesser, und steht dann hoch auf, um oben eine zweite Krone zu bilden. Ein Mädchen, heißt es, war unschuldig zum Tode verurteilt und wurde vor das Tor zur Richtstätte geführt. Unterwegs ergriff es einen am Boden liegenden dürren Zweig, steckte ihn verkehrt, das obere Ende unten, in die Erde und sprach: "So wahr dieser Zweig ausschlagen und zu einem mächtigen Baume erwachsen wird, so wahr bin ich unschuldig!" Das Mädchen wurde hingerichtet; der Zweig aber bekam Leben, wuchs und gedieh und wurde der Baum, der jetzt den Kirchhof schmückt. Da, wo die Äste sich zur Laube ausbreiten, da waren an dem dürren Zweige die Wurzelfasern; die wollen nicht in die Höhe, sondern streben immer seitwärts und nach unten und sind so knorrig, wie nur Wurzeln werden können. - Einige geben an, das Mädchen habe bei einer reichen Herrschaft gedient und habe dem Sohne derselben nicht zu Willen sein wollen. Da, so erzählen sie, nahm der Sohn seinen Eltern einige silberne Löffel weg und verbarg sie in dem Koffer des Mädchens. Als die Löffel vermißt und überall im Hause gesucht wurden, fand man sie endlich in dem Koffer. Das Mädchen wurde des Diebstahls schuldig befunden und zum Tode verurteilt. - Auf dem Kirchhofe sind eine Äbtissin und drei Nonnen in einem Grabe begraben. Jede Nacht um zwölf Uhr erstehen diese Toten aus ihrem Grabe, wandern nach der alten Gertrudenkapelle und wieder zurück zu ihre Grabe.

Quelle: Ludwig Strackerjan: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. 2. erweiterte Auflage. Hg.: Karl Willoh. Oldenburg 1909, S. 242.
Die Sagen wurde von
Etta Bengen gesammelt und für SAGEN.at zur Verfügung gestellt.