Probe des Adels.

Historischer Weltspiegel von Talandern. 1699.

Heinrich der Eiserne, Graf von Holstein, hatte durch seine Heldentugenden das Herz Königes Eduard II. in England dermaßen gewonnen, daß er ihm vor allen anderen Herren bei Hofe mit besonderen Gnaden beigethan war. Ob er nun wohl wegen seiner großen Eigenschaften so hohes Glück verdienete, wurde es ihm doch am wenigsten gegönnet, und die Engländer murreten recht erbittert über diese Wahl des Königes, dadurch er einen Fremdling ihnen, als Einheimischen, in seiner Gnade vorgezogen. Allein der König ließ sich solches Misvergnügen seiner neidischen Hofleute gar nicht hindern, dem Grafen nach wie vor beständig zugethan zu bleiben. Als nun die Engländer sahen, daß sie bei dem großmüthigen Eduard durch Verleumdung des von ihm so hoch geliebten Grafen nichts ausrichteten, so wendeten sie sich an die Königin, welche über die Maßen strenge darauf hielt, daß, wer am Hofe zu hoher Würde gelangen wollte, von rechtem adelichen Geblüte mußte entsproßen sein. Bei dieser nun gaben sie den Grafen Heinrich an, er wäre nicht edel geboren, sondern durch das bloße Glück in den Ritterstand erhoben, und ersuchten die Fürstin, sie möchte bei des Königes Abwesen von Heinrich eine Probe nehmen und den in dem königlichen Palast enthaltenen Löwen auf ihn loslaßen, um zu sehen, ob derselbe ihn unverletzt von sich ließe. Dieses sonst grimmige Thier hatte nämlich die Art an sich, daß es keinem Edelmann einigen Schaden zufügte.

Diesen Vorschlag ließ sich die Königin gefallen, und der Graf wurde, da eben der König verreiset, des Morgens zu ihr hinaufgefordert; da hatte man es denn schon angestellet, daß, als er in den Schloßhof kam, der hungerige Löwe, dem man eben deswegen sein gewöhnliches Futter einige Stunden zurückbehalten, losgelaßen wurde, welcher ihn denn auch mit großem Brüllen und sehr erhitztem Grimme ansprengete. Ob nun wohl der Graf sich eines solchen Anfalls nicht vermuthet, so blieb er doch ganz unerschrocken stehen und redete dem Löwen glimpflich zu: "Nun, nun, gieb dich zufrieden, gieb dich zufrieden, mein Löwe!" worauf sich alsofort dieß grimmige Thier ganz besänftiget zu des Grafen Füßen legte, der Graf aber dessen Mähne mit der Hand strich und den Löwen, der ihm nicht anders gehorsamte, als wenn es sein Hund gewesen, hernach wieder an seinen Ort führte.

Die Feinde des Grafen, welche hie und da in den Fenstern und Löchern aufpasseten, in der Hoffnung, sich an einem blutigen Schauspiele zu ergötzen, erstaunten, als sie das sahen, und wurden ganz stutzig. Aber Graf Heinrich, der wohl merkete, daß sie ihm dieses Bad zubereitet, sahe sich umher, und als er hin und wieder einige gewahr wurde, nahm er einen frischen Rosenkranz aus seinem Hute, setzte denselben auf des Löwen Kopf und gieng also von ihm aus seinem Gatter wieder heraus, den englischen Edelleuten zurufend: "Ist nun jemand gegenwärtig, der seinem edlen Geschlecht so viel als ich dem meinigen trauen darf, der hole meinen Kranz von des Löwen Haupte!" Allein es wollte sich keiner wagen, sie schlichen vielmehr beschämt davon und wurden noch dazu wie von der Königin so auch von Eduard, als dieser die Begebenheit erfahren, sehr gehöhnet; der Graf aber wurde mit neuen Geschenken von der königlichen Hand ganz gnädig beehret.

Quelle: Märchen und Sagen aus Hannover, Carl und Theodor Colshorn, Hannover 1854, Nr. 80, S. 231 - 233.