Der weiße Hirsch.

Mündlich in Stemmen.

Es war einmal ein Müller, der hatte keine Kinder und war darüber traurig; als er nun eines Tags in seiner Mühle war und mahlte, sah er eine große Schachtel auf dem Waßer schwimmen und fieng sie auf. Neugierig öffnete er den Deckel; siehe! da lag ein kleiner Knabe darin und weinte. Der Müller freute sich sehr, brachte ihn zu seiner Frau, und nun erzogen sie ihn mit Treue und Sorgfalt und hatten ihn herzlich lieb; er war ihnen auch gehorsam und zugethan, doch hatte er immer etwas ganz Besonderes an sich. Als er vierzehn Jahr alt war, fragte ihn sein Vater, was er werden wolle, und hoffte, er solle sagen "ein Müller"; er aber antwortete: "Ein Jäger will ich werden", und so sehr die Mutter bat, und so gern der Vater ihm die Mühle vererbt hätte, er blieb dabei: "Ein Jäger will ich werden." So kam er denn bei einem alten befreundeten Jäger in die Lehre, und als der ihn einige Tage mitgenommen hatte, traf er alles, wonach er nur schoß.

Eines Tages durchstreifte er wieder den Wald, da sah er einen großen weißen Hirsch und schoß nach ihm; er hatte auch dießmal wieder sehr gut gezielt, und dennoch lief das blutende Thier davon. Verwundert folgte der Jägerbursch der Spur nach und gelangte bald an ein großes Schloß, welches er doch früher hier noch nie bemerkt hatte, und in welchem der Hirsch verschwunden war. Er gieng hinein, fand aber keinen Menschen, und der weiße Hirsch war auch nirgends anzutreffen, ebenso wenig ein anderes Thier. Nun durchsuchte er alle Zimmer und besah sie sich; zuletzt kam er an eins, in dem stand ein großer Tisch, mit den schönsten Speisen besetzt, und in der einen Ecke befand sich ein weiches und reiches Bett. Er war aber sehr hungerig und müde; deshalb aß er sich rechtschaffen satt und legte sich dann schlafen.

Es wurde eine rauhe Nacht; brüllend strich der Wind durch die dichten Forsten, und als die Glocke zwölf schlug, hörte er einen schrecklichen Lärm, die Thür zu seinem Zimmer ward geöffnet, und eine Gestalt trat herein, die legte sich auf sein Bett. War er nun hierüber schon erschrocken, so entsetzte er sich noch weit mehr, als er die Gestalt berührte; denn sie war rauh wie ein Bär und kalt wie Eis. Deshalb war niemand froher denn er, als es endlich eins schlug, und das Gespenst sich wieder davon machte. Am andern Tage, als der Jäger aufstand, fand er ein Frühstück auf dem Tische, und nachdem er gegeßen und getrunken hatte, gieng er weg. Als er hinaus in den Hof kam, rief eine Stimme: "Junger Jäger, hat dir's hier gefallen, so komm heute Abend wieder!" Die Stimme hörte er sehr deutlich, woher sie aber gekommen sein möge, das konnte er nicht herausbringen, denn nirgends war eine andere Spur von einem lebenden Wesen. So gieng er denn der Mühle zu, wie er oft zu thun pflegte, und traf hier auch den alten Jäger an; und sie fragten ihn, wo er gewesen sei, denn sie hatten die ganze Nacht um ihn gesorgt, und die Mutter weinte noch, als er eintrat. Er jedoch antwortete ihnen nicht.

Des Abends begab er sich wieder in den Wald, und es ergieng ihm gerade wie das erstemal; als aber um zwölf die Gestalt kam, war sie schon halb warm und nur noch halb rauh. Getrost verzehrte er am andern Morgen das köstliche Frühstück, und als er hierauf weggehen wollte und in den Schloßhof kam, rief die Stimme wieder: "Junger Jäger, hat dir's hier gefallen, so komm heute Abend wieder!" Die Eltern hatten wieder die ganze Nacht gewacht, der alte Jäger, der noch in der Mühle war, gleichfalls; als aber der Jägerbursch endlich zurückkehrte, und sie ihn fragten, wo er die Nacht zugebracht habe, da antwortete er ihnen nicht. Nun hüteten sie sein den ganzen Tag und baten ihn, er solle bei ihnen bleiben; doch gegen Abend schlich er sich heimlich fort und eilte wieder dem Schloße zu. Auch dießmal begab sich alles wie das erste- und zweitemal; als aber um zwölf die Gestalt kam, war sie ganz glatt und warm und blieb bis an den hellen Morgen. Da wachte der Jägerbursch auf; wie staunte er aber, als er die Augen aufschlug und eine schöne Königstochter neben sich fand! Und als sie aufgestanden waren und sich angekleidet hatten, kamen auch der König und die Königin mit vielen Dienstleuten herein, und der König sagte zu ihm: "Du hast uns erlöst; darum sollst du nun meine Tochter zur Gemahlin haben und nach meinem Tode König sein über dieß ganze Land." Da ward große Freude überall; der junge Jäger holte seine Eltern und den alten Jäger aufs Schloß und erzählte ihnen unterwegs, wo er die drei Nächte gewesen sei, und als am andern Tage die Hochzeit war, freuten sich alle Gäste über das schmucke Brautpaar.

Quelle: Märchen und Sagen aus Hannover, Carl und Theodor Colshorn, Hannover 1854, Nr. 21, S. 70 - 72.