DER BACHSTÜPP

Die Rurtalbewohner hatten offenbar weniger Angst vor dem Stüpp als die Menschen im heutigen Erftkreis. Kein Wunder, in den Wäldern und Feldern zwischen Horrem und Hürth hatte ja auch der wirkliche Peter Stübbe seine angeblichen Mordtaten verübt. Die Menschen in der Dürener Gegend erfanden sogar eine pädagogisch wertvolle Variante der pelzigen Heulboje. Damit meine ich nicht jenen Buhmann, mit dem unsere Großeltern uns vielleicht noch einschüchtern konnten. Ich jedenfalls hatte eine Heidenangst vor dem Stüpp mit den glühenden Augen, der mich irgendwann holen und auffressen würde, falls ich meine geplagte Großmutter noch weiter zur Verzweiflung bringen sollte. Zwar wusste ich als sechs- oder siebenjährige Nervensäge noch nicht, wie dieser Kinderschreck genau aussah, aber die Tatsache, dass meine Großmutter ihm einen langen Beschwerdebrief schreiben und ihn über mein böses Treiben in Kenntnis setzen wollte, versetzte mich doch zuweilen in eine ziemlich nachdenkliche Stimmung.

Die pädagogisch wertvolle Variante, die ich meine, zeichnete sich vor dem traditionellen Werwolf durch seine Menschenfreundlichkeit aus. Nie hat dieser Stüpp seine Zeitgenossen in Stücke gerissen, sondern ihnen allenfalls ein paar Lehren erteilt – diese aber kräftig, und zwar ganz nach Altväter Art auf’s Hinterteil. Diese Spielart des Werwolfs wurde Bachstüpp genannt, weil er sich meistens in der Nähe von Bächen herumtrieb. Trotz der Namensähnlichkeitmit dem niederländischen Grachtstüpp dürfen diese beiden Werwolfgattungen nicht miteinander verwechselt werden. Der Bachstüpp aus dem Rurtal war selbst nicht sonderlich durstig, aber er hatte ein waches Auge auf all diejenigen Mitmenschen, die gern einen oder auch zwei über den Durst tranken. Denen rückte er nämlich auf den Pelz und klärte sie in drastischer Weise darüber auf, dass ein vollgesoffener Kopf nicht erst am nächsten Morgen heftig schmerzen muss. Daher ist davon auszugehen, dass die Figur des Bachstüpp von verzweifelten Ehefrauen oder von der ersten Selbsthilfegruppe der "Anonymen Alkoholiker" im Rurtal ins Leben gerufen wurde.

Da lebte in Gürzenich vor überhundert Jahren Latzens Scheng (d. h. Jean), dessen Durst mindestens genausogroß war wie sein Maulwerk. Oft genug kam er volltrunken aus dem Wirtshaus zurück, kollerte in der Küche herum und schlug auch zuweilen seine Frau. Die machte ihm natürlich Vorhaltungen und schimpfte, dass sein Suff und sein Hang zum Kartenspiel die ganze Familie noch an den Bettelstab bringen würden. Scheng aber machte immer nur eine wegwerfende Handbewegung und warf sich dann auf sein Bett, um den Rausch auszuschlafen. Dass seine Frau leise weinend neben ihm lag und ihm den Bachstüpp an den Halswünschte, hörte er dann nicht mehr.

Eines Abends machte Latzens Scheng sich wieder auf den Weg zum Wirtshaus. Es war fast schon Winter, und die Wege hier auf dem platten Land waren vom Regen ganz glitschig. "Du wirst dir noch das Genick brechen, wenn du wiederbetrunken nach Hause kommst", warnte ihn die Frau. Aber der Scheng zuckte nur gleichgültig mit den Schultern, denn bislang war er immer noch mit heilen Knochen von seinen Sauftouren heimgekehrt.

"Ach, ich wünschte, der Bachstüpp würde dich in die Finger kriegen und dir eine gehörige Tracht Prügel verpassen", seufzte die geplagte Frau, und dieser Wunsch kam bestimmt von Herzen.

Aber das hätte sie vielleicht nicht sagen sollen, denn jetzt nahm der Latzens Scheng den Mund ein wenig zu voll, was bei ihm keineswegs eine Seltenheit war. "Lass den Zottelpelz bloß kommen!" lachte er. "Dann nehm’ ich ihn auf den Buckel und schmeiß’ ihn in den Bach, damit er sich einmal richtig abkühlt."

Wie nicht anders zu erwarten, hockte Latzens Scheng mit seinen Saufkumpanen bis weit nach Mitternacht bei Bier, Korn und Kartenspiel beisammen. Als der Wirt sie schließlich hinauswarf, rief er großspurig hinaus in die Nacht: "Su, on jezz kann dä Baachstüpp röhisch komme! (So, und jetzt kann der Bachstüpp ruhig kommen!)"

Die anderen Saufbrüder bekreuzigten sich und sahen zu, dass sie schnell und ohne näheren Körperkontakt mit dem zotteligen Unhold nach Hause kamen.

Der Heimweg von Latzens Scheng führte in der Nähe eines kleinen Baches entlang. Scheng pfiff zuversichtlich vor sich hin. Wirklich zuversichtlich? Oder hatte ihn doch die Furcht vor dem Bachstüpp beschlichen. Plötzlich hörte er in unmittelbarer Nähe ein leises Knurren. Als er sich erschrocken umschaute, sah er einen dunklen Umriss auf einem Baum, nur wenige Schritte von ihm entfernt, und aus diesem düsteren Etwas funkelten ihm zwei tellergroße Augen wie glühende Kohlen entgegen.

"Hallo, da bist du ja", begrüßte Scheng den Bachstüpp, denn es war natürlich der pädagogisch wertvolle Werwolf, der da unserem Spätheimkehrer auflauerte. "Ich hatte schon Angst, ich würde dich verpassen." Obwohl ihm leicht mulmig zu Mute wurde, stemmte Latzens Scheng die Arme in die Seiten und rief: "Möchtest du jetzt dein Bad nehmen oder ein andermal?" Da öffnete der Bachstüpp das Maul und sagte laut und deutlich zu Scheng: "Danke, ich hatte kürzlich schon ein reinigendes Bad. Aber du stinkst so erbärmlich aus dem Mund, dass ich fürchte, du brauchst es dringender als ich."

Latzens Scheng war völlig sprachlos. Der Bachstüpp konnte ja reden! Und was er sagte, war nicht dazu angetan, den Wagemut von Großmaul Scheng zu steigern.

"Ich habe gehört, wie du ebengeprahlt hast, du alter Suffkopp", fuhr der Stüpp fort, und seine Stimme klang wie ein bedrohliches Donnergrollen." Niemand fordert mich ungestraft heraus und sagt, er werde mich ’mal rasch auf die Schulter nehmen und ins kalte Wasser werfen."

Nun hatte Scheng genug. Er drehte sich um undwollte zurück ins Dorf laufen. Doch in diesem Moment hob der Bachstüpp von seinem Platz auf dem Ast ab und sprang mit einem Satz auf Schengs Rücken. Er krallte sich in der Jacke des Mannes fest und hechelte in sein Ohr: "So,jetzt zeige ich dir einmal, dass stramme Bewegung gut für die Ausnüchterung ist."

Damit verpasste er dem Latzens Scheng einen Stoß, und, ohne sich dagegen wehren zu können, rannte der Trunkenbold los. Die Lastauf seinem Rücken drückte ihn mehrfach in den Schlamm, doch der Bachstüpp blieb unerbittlich. Immer wieder zwang er den armen Scheng zum Weiterlaufen und wurde von Mal zu Mal schwerer, als ob er einen bleiernen Mantel trüge. Nun ginges quer über matschige Felder in den Wald hinein. Die Äste und Zweige schlugen dem Mann wie Peitschen und Gerten ins Gesicht, aber er konnte nicht stehenbleiben. Der Bachstüpp ließ nicht locker. Nach einigen Minuten fiel Scheng völlig außer Atem und ohne jede Kraft nach vorn über und landete mit dem Gesicht im Schlamm. Jetzt erst sprang der Bachstüpp von seinem Rücken und stieß ihn mit seiner eiskalten Schnauze an. "Das soll dir endlich eine Lehre sein, Latzens Scheng", knurrte er, und das Knurren klang fast wieder eine Spur versöhnlicher. "Lass dich nicht noch einmal von mir erwischen. Sonst geht es voll durch den eiskalten Bach, und zwar mitten im Winter."

Damit trabte er davon und verschwand zwischen den Bäumen. Latzens Scheng rappelte sich schließlich wieder auf und torkelte heimwärts. Die nächsten Tage über wurde er nicht im Dorf gesehen. Er müsse das Bett hüten, weil er auf dem Weg nach Hause in den Schlamm gefallen sei und sich dabei furchtbar erkältet habe, ließ er durch seine Frau verbreiten. Aber die braven Bauern von Gürzenich munkelten hinter vorgehaltener Hand, der Bachstüpp habe ihn einmal so richtig zwischengenommen und zu Schanden geritten. Und, das garantiere ich Ihnen, die Schadenfreude der guten Leute war echt und ungeheuchelt!


Anmerkung: nicht weit von Köln und Aachen entfernt, ging früher der Werwolf um. Er wurde im Volksmund als "Stüpp" bezeichnet, was auf einen um 1585 in Michael Schumachers Heimatort Bergheim hingerichteten "Werwolf" namens Peter Stübbe zurückgeht. Meistens war der Werwolf gefährlich, zuweilen aber auch zu derben Späßen aufgelegt, was ihn in die Nähe der Huckaufleichen stellt.
Diese Sage, die aus dem Ortsteil Gürzenich (Stadt Düren) stammt, wurde von Peter Kremer nacherzählt.
Die Sammlung von Werwolf- und Wiedergängergeschichten aus dem Rheinland von Peter Kremer wird demächst unter dem Namen "Stüpp und Dubbelsügger. Werwölfe, Untote, Wiedergänger und Hexen im Land zwischen Rur und Rhein" erscheinen.

Quelle: Email-Zusendung von Peter Kremer, 8. Dezember 2001