DIE GROßE LINDE AUF DEM NIKOLAIKIRCHHOFE ZU GÖRLITZ

Die Görlitzer Schoppen übten strenge Gerechtigkeit und henkten manchen bei der Wegelagerung betroffenen Stegreifritter an den lichten Galgen. Einst hatten sie einen armen Knappen gefangen und zum Tode verurteilt; denn wenn er auch seine Unschuld behauptete, so preßten ihm doch die Daumenschrauben und die Streckbank das Geständnis eines Verbrechens aus, das er nicht begangen hatte. So wurde er denn an einem schönen Morgen hinausgeführt, um gehenkt zu werden. Als er nun am Nikolaikirchhofe vorbeikam, wo seine ehrbaren Eltern begraben lagen, ward es ihm sehr wehe im Herzen, daß er eines so unehrlichen Todes sterben sollte, obwohl er unschuldig war, und gedachte ein Zeichen zu hinterlassen, woran man wenigstens nach seinem Tode seine Unschuld erkennen möchte, bat also den Henker, ihm zu erlauben, daß er am Grabe seiner Eltern noch ein Ave-Maria und ein Paternoster beten dürfe. Das gewährte der Henker dem armen Knappen und ließ ihn von seinen Knechten zu dem Grabe geleiten, auf welchem ein junges Lindenbäumchen stand. Nachdem nun der Verurteilte sein Gebet verrichtet hatte, riß er das Lindenbäumchen aus und pflanzte es umgekehrt wieder ein, so daß die Wurzeln als Zweige nach oben gerichtet, die Zweige aber als Wurzeln mit Erde bedeckt wurden, und sagte dabei: „So gewiß wie dies Bäumchen aus den Zweigen Wurzeln und aus den Wurzeln Zweige treiben und emporwachsen wird zu einem mächtigen Baume, so gewiß habt ihr mich unschuldig zum Tode verdammt."

Und siehe! Das Bäumchen wuchs und wurde ein mächtiger Baum, der seine schattenden Zweige weithin über den Friedhof verbreitet, bis auf den heutigen Tag.


Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 21