Die silbernen Tannenzapfen

Zu einer Zeit, als man in den Steinbrüchen bei Nebra noch den Sandstein brach, der ebenso berühmt wie begehrt war, wohnte in Wangen ein Steinbrucharbeiter mit seiner Familie. Obwoni der Mann seine Arbeit ernst nahm und auch fleißig war, seine Frau durch vielerlei Dienste etwas dazu verdiente, reichte beider Lohn für ihre große Familie nicht aus.

Als der Vater eines Tages krank nach. Hause geschickt wurde und für eine längere Zeit das Bett hüten mußte, zog bittere Not bei ihnen ein. Sorgenvoll schauten alle in die Zukunft, denn auch der Winter stand vor der Tür. Vorräte hatte man nicht anlegen können, Korn und Kartoffeln waren längst verbraucht. Am meisten aber hatten die Kinder unter dem Mangel zu leiden, denn auch das letzte Stücklein Brot war längst aufgezehrt.

Da sprach die Mutter eines Tages in ihrer Verzweiflung: "Liebe Kinder, bleibt im Haus, entfernt euch nicht vom Krankenlager eures Vaters, ich will in den Wald gehen, Tannenzapfen zu suchen, vielleicht finde ich einige, die ich dem Bäcker bringe, und er gibt mir etwas Brot dafür." Mit ihrem großen Tragkorb ging sie in den nahen Wald. Aber so sehr sie in die Runde blickte, nirgends fand sie die begehrten Zapfen. Dabei geriet sie unmerklich immer tiefer in den Wald, der dichter und undurchdringlicher wurde.

Als sie schließlich mutlos und verzagt umkehren wollte und dicke Tränen wegen ihres Mißerfolgs über ihre vergrämten Wangen rollten, gesellte sich ein alter Mann zu ihr, der ihr aber vollkommen unbekannt war.

Teilnahmsvoll erkundigte er sich nach dem Grund ihrer Tränen. Sie erzählte ihm alles wahrheitsgetreu. Plötzlich vernahm sie hinter den Tannen Stimmen, und auch der Mann war genauso heimlich von ihrer Seite verschwunden, wie er vordem plötzlich neben ihr gestanden hatte. Ihr wurde in "dem dichten Walde umheimlich und bange, und ihr war es auch, als wäre sie von lauter Geistern umgeben. Voller Angst im Herzen trat sie den Heimweg an, und mit einemmale lösten sich viele Zapfen von den über ihr hängenden Tannenzweigen, fielen ihr direkt in den Tragkorb und füllten ihn alsbald bis zum Rande. Erfreut und glücklich zugleich schritt sie nun rüstig aus, um recht bald bei ihrer Familie zu sein. Doch die Last drückte und wurde immer schwerer. Und der Weg war noch weit. Sie mußte mehrfach verschnaufen und wollte auch schon die Hälfte der Zapfen auf den Waldboden schütten, ihre Last zu erleichtern. Später wollte sie diese dann ebenfalls nach Hause tragen. Aber da stand erneut der alte Mann an ihrer Seite und raunte ihr mit seltsamer Stimme zu, alle Tannenzapfen nach Hause tragen zu wollen. Auch solle sie unterwegs keine Rast mehr einlegen. Und sollte sie zuviel von den Zapfen haben, dann solle sie auch anderen davon abgeben. Die Frau verwunderte es sehr, daß sie von dem wertlosen Gut auch noch anderen Leuten abgeben sollte. So stapfte sie ohne Rast weiter, obwohl die Last kaum noch zu tragen war. Aber sie erreichte ihr Haus, wenn auch völlig erschöpft.

Wie staunte sie aber, als sie den Korb ausschüttete: alles blitzte und blinkte, die Tannenzapfen waren aus blankem Silber. Nun hatte alle Not ein Ende. Aber sie wurden durch den plötzlichen Reichtum nicht etwa übermütig und leichtfertig. Eltern und Kinder blieben einfach und bescheiden und vergaßen auch die Worte des alten Mannes nicht, anderen von ihrem Schatze abzugeben. Sie hatten an sich selbst erfahren, wie schwer bittere Not zu ertragen ist.

Quelle: Sagen und Legenden aus Nebra (Unstrut), Gesammelt und neu erzählt von Rudolf Tomaszewski, Nebra 1987