INGE VON RANTUM
Es war einst ein Schiff, das segelte nach England. Unterwegs kam ein starker Sturm, daß die Schiffsleute ängstlich wurden und dachten, sie sollten zugrunde gehen. In der Nacht wurde das Steuerruder unklar. Sie sahen über Bord und wurden gewahr, daß ein großer Mann seinen Kopf aussteckte aus dem Wasser dicht bei dem Ruder. Sie fragten ihn, was er wolle. "Ich will den Schiffer sprechen", antwortete er.
Die Schiffsleute riefen den Kapitän. Der Kapitän kam, sah auch über Bord und fragte den Mann: "Wer bist du? Was willst du?"
"Ich bin der Meermann, mein Weib verlangt, daß dein Weib kommt, um ihr zu helfen bei der Geburt."
"Meine Frau schläft, sie kann nicht kommen", antwortete der Schiffer.
"Sie muß kommen", rief der Meermann, "sonst macht meine Alte noch mehr Spektakel, noch ärgeren Sturm und Seegang, und ihr geht allesamt zugrunde."
"Ich will gleich kommen", rief des Kapitäns Frau, die alles gehört hatte. "Man muß niemanden in Not lassen, dem man helfen kann."
Sie sprang über Bord zu dem Meermann und ging mit ihm hinab zum Meeresgrunde. Der Sturm war vorbei, die See ward ruhig.
Unterdessen hatte der Schiffer große Sorge um seine Frau, aber es währte nicht lange, da hörte er so lieblich: "Heia, heia, hei!" tief unten in der See singen, und die Wellen gingen so eben auf dem Wasser, als wenn die ganze See wie eine Wiege geschaukelt würde. "Aha", dachte er, "das Kind ist schon geboren, das ist gutgegangen."
Es dauerte keine Stunde, da kam die Frau des Schiffers wieder auf aus der See und glücklich zurück an Bord. Sie war kaum einmal naß geworden, hatte die Schürze voll von Gold und Silber und hatte viel zu erzählen. Das Meerweib hatte ein Kleines bekommen, ein Ding, das wir auf Sylt ein Seekalb nennen, aber die Meerfrau meinte, es wäre so schön wie ein Engel. Der Meermann war so froh geworden, daß er der Frau des Schiffers so viel Gold und Silber verehrt hatte, als sie tragen konnte.
Der Schiffer hatte nun guten Wind, machte seine Reise schnell ab und segelte mit seinem Weibe und mit seinem Gelde wieder heim nach Sylt. Allein, wenn er später wieder ausfuhr zur See, dann ließ er allezeit sein Weib zu Hause bleiben in Rantum, wo sie wohnten.
Viele Jahre nachher, als das Meerweib so alt und faltig wurde, dachte
der Meermann noch oft an des Schiffers schöne und mitleidige Frau.
Er beschloß, sein altes Hauskreuz zu verlassen, den Schiffer mit
einem Sturm zu überfallen und zu ersäufen und dann die schöne
Witwe zu freien. Aber es fiel ihm nicht ein, daß die Frau des Schiffers
inzwischen auch alt geworden war.
Einst sah er das Rantumer Schiff wieder über die See kommen. Da dachte er: nun ist es meine Zeit. Er sagte zu seinem Weibe: "Ich will hin, um Heringe zu fischen. Du mußt Salz mahlen zu der Heringslauge, bis ich wiederkomme." Denn er wußte, daß sie dann einen greulichen Lärm machte in ihrem Hause am Meeresgrunde. Von dem Salzmahlen der Meeresfrau soll die ganze See zuletzt salzig geworden sein. Als der Sylter Schiffer in die Nähe kam, war dort ein solcher Mahlstrom in dem Wasser, daß er mit seinem Schiff mit Mann und Maus versank.
Unterdessen schwamm der Meermann nach Sylt und ging ans Land auf Hörnum. Er spazierte längs dem Strande und dachte an das Weib des Schiffers. Gegen Abend kam ihm ein Mädchen entgegen beim Küssetal (Taatjemglaat). Er meinte, es wäre die Frau des Schiffers, aber es war seine Tochter, die ihrer Mutter sehr ähnlich war. Der Meermann hatte sich ganz und gar verwandelt. Er hatte sich angetakelt wie ein Sylter Seefahrer, aber gebärdete sich wie ein Nachtschwärmer und begann zu dem Mädchen miteins zu freien.
Sie wurde verlegen und bange vor ihm, aber er setzte ihr einen goldenen Ring über jeden Finger, band ihr eine goldene Kette um den Hals und sagte: "Nun hab ich dich gebunden, nun bist du meine Braut." Sie weinte und bat ihn, er solle sie gehen lassen, aber sie gab ihm seine goldenen Ringe und seine Kette nicht zurück. Er sprach zu ihr:
"Ich mag dich, muß dich haben!
Magst du mich, sollst mich kriegen.
Willst du nicht, kriegst mich doch.
Mittwoch haben wir Gelag.
Doch kannst du sagen, wie ich heiß,
Dann bist du frei und meiner los!"
Darauf ließ er die Jungfrau gehen. Sie gelobte ihm, sie wolle ihm
den folgenden Abend Bescheid tun, aber sie dachte, ich bekomme wohl irgendwo
zu wissen, wie der Freier heißt. Doch überall, wo sie fragte,
kannte man ihn nicht.
Sie ging am folgenden Abend wieder am Strande und weinte. In Gedanken ging sie immer weiter, bis sie nach dem Törnhörn auf Hörnum kam. Da kam es ihr vor, als wenn sie in dem Berge jemand singen hörte. Sie blieb stehen und horchte. Da hörte sie deutlich ihres Freiers Stimme. Er sang:
"Heute soll ich brauen,
Morgen soll ich backen,
Übermorgen will ich Hochzeit machen.
Ich heiße Ekke Nekkepenn;
Meine Braut ist Inge von Rantum,
Und das weiß niemand als ich allein!"
Als sie das hörte, da wurde sie froh. Sie kehrte sogleich zurück
zum Küssetal und erwartete ihren Freier dort. Es währte nicht
lange, da kam er auch. Sie rief ihm zu: "Du heißt Ekke Nekkepenn,
und ich bleibe Inge von Rantum." Dann lief sie schnell nach Hause
mit ihrer goldenen Kette und ihren goldenen Ringen, und er war genarrt.
Seit der Zeit war der Meermann böse auf alle Rantumer. Er machte ihnen Schabernack und Unglück, wo er nur konnte. Er überfiel ihre Schiffe und Seeleute mit Sturm und jagte sie in den Grund zu seinem alten Weibe, welches sie fing in ihren Netzen. Er zerstörte zuletzt der Rantumer Land und Häuser ganz und gar durch Sand und Flut, wie solches noch auf Hörnum zu sehen ist.
Quelle:Wilhelm Jessen, Sylter Sagen, nach den
Schriften des Heimatforschers C. P. Hansen, Westerland auf Sylt, 1925