Alice

Auf Quinipily, nahe dem Städtchen Baud, lebte ein alter, reicher Herr, der Millionen besaß und doch nicht glücklich war. Er konnte es auch nicht sein, denn er hatte keine Kinder.

Um das Schicksal doch noch zu versöhnen, hatte er oft an die Armen und Kranken Spenden verteilt, Wallfahrten gemacht, Kerzen entzündet und Andachten gehalten - vergeblich. Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Traurig und einsam schlich das Alter heran, denn der Herr war mehr als sechzig Jahre alt, und seine Frau kam dem halben Jahrhundert ziemlich nah.

Als sie schon alle Hoffnungen aufgegeben hatten, beglückte die Natur sie doch noch mit einem reizenden Mädchen, das bei der Taufe den Namen Alice erhielt.

Unmöglich ist es, die Freude zu schildern, die das Ehepaar über die Geburt dieses so ersehnten Kindes empfand, noch die Sorge zu beschreiben, mit der die Kleine behütet wurde.

Mit zwölf Jahren war Alice schlank wie ein Hanfstengel, geschmeidig wie ein Schilfrohr, frisch, aber blaß wie die wilde Rose; freilich war sie sehr zart, und ihre schwache Natur, die ihrer Schönheit einen unnachahmlichen Reiz lieh, beunruhigte auch ihre Eltern, deren einziger Lebensinhalt sie war. Die berühmtesten Ärzte waren nicht zu teuer, um dem hübschen, aber schwächlichen Kind eine Lebensweise vorzuzeichnen, die seine Gesundheit kräftigen könnte; sie rieten Alice geregelte Tätigkeit, reine Feldluft, Spazierritte und verboten für immer durchwachte Nächte.

Alice befolgte die Ratschläge gewissenhaft. Von zwei Freundinnen begleitet, ritt sie täglich auf ihrem Pferd, das weiß wie Milch, sanft wie ein Lamm und flink wie ein Eichhörnchen war, durch die Gegend; sie besuchte die Katen und Hütten der Landarbeiter und Bauern, um Hilfe und gute Worte zu verteilen, sprach mit allen, gab ihnen Geld. Ihr Herz war aus Gold.

Mit sechzehn Jahren war Alice blühend wie die Gartenrose, denn einen guten Charakter setzt die Natur auch in Ansehnlichkeit um. Das Mädchen war groß und gekräftigt, und aus zwanzig Meilen in der Umgebung kamen, gelockt durch ihre jungen Reize, die Männer zu Besuch, entbrannt in Liebe und Begehren.

Ihr alter Vater, bedenkend, daß seine Jahre gezählt waren, und von dem Gedanken beunruhigt, seine geliebte Tochter könne einst ohne Mann zurückbleiben, drang oft in sie, einen der Bewerber zu wählen; aber Alice, die selbständig und frei war, wollte sich nicht binden.

Eines Tages kam ein junger, schöner Mann aus Versailles, ausgezeichnet durch Anmut und edle Haltung, als ein entfernter Verwandter der Eltern nach Quinipily; er sah Alice, verliebte sich in sie, gewann auch ihr Herz, und sie beschlossen, zu heiraten.

Nie hatte es eine schönere, fröhlichere, reichere Hochzeit gegeben, nie waren so viele Gäste so glücklich gewesen, niemals hatten zu so klangvollen Sackpfeifen und Brummbässen so viel Leute getanzt. Und doch nahm, mitten in dem Glanz und dem lärmenden Jubel, alle Herzen eine ängstliche Beklemmung ein und erstickte die Freude.

Es hatte jedoch, für den, der es hören konnte, am Abend vor dem Fest die Hundemeute des Anwesens die ganze Nacht geheult; die Kerzen für die Braut hatten nur schwach gebrannt und waren ohne Rauch verloschen; beim Essen war Salz auf den Tischen verschüttet worden; Alice war an einem Dreizehnten des Monats getraut worden, und dreizehn Frauen hatten am Morgen ihrer Garderobe beigewohnt.

Ganz in ihr Glück versunken, hatte Alice keines dieser Vorzeichen bemerkt. Konnte sie eine unglückliche Zukunft ahnen, sie, der damals im Leben alles zulächelte?

Doch kein Kopf ist so beschäftigt, kein Herz so voll, daß nicht eine Begierde dazu darin Platz finden könnte. Wenige Tage nach der Hochzeit also verlangte Alice, nach Versailles abzureisen, wovon ihr Mann soviel Erstaunliches erzählt hatte. Und an einem Freitag darauf fuhren sie auch.

Dort angekommen, vergaß sie bald die Mahnungen der Ärzte, ihre Nächte brachte sie auf Bällen, ihre Tage im Strudel von Festen zu. Bald verblichen die Rosen ihrer Wangen, verwelkte ihre schöne Gesundheit, die das geordnete Landleben ihrer Heimat ihr gegeben hatte.

Sowie Alice an dem Fieber, das sie schüttelte, die Bedenklichkeit ihres Zustandes erkannte, wollte sie zu den Eltern zurückkehren und zu Hause neue Kraft schöpfen; aber es war zu spät. Die Pflege konnte nur ihr Leiden lindern, nicht seinen Fortschritt aufhalten.

Umsonst verbarg man der jungen Frau ihr nahes Ende, es wurde ihr bald klar. Denn in einer schlaflosen Nacht hörte sie an ihrem Fenster ein Käuzchen sein klägliches Gewimmer ausstoßen und die Räder des Totenkarrens ächzen, der vor dem Tor hielt, und diese schrecklichen Anzeichen gaben ihr zu verstehen, daß auf der Welt für sie alles zu Ende ging.

Da bereitete sie sich auf den Tod vor. Um keine Spur ihrer Eitelkeit und Oberflächlichkeit zurückzulassen, wollte sie mit allen Kleidern und Schmuckstücken begraben werden. Dann starb sie, nicht ohne Klage, doch gefaßt.

Lange und bitter wurde sie von allen beweint, die sie gekannt hatten. Ihre Eltern überlebten den Schmerz nicht, und das Anwesen ging in fremde Hände über.

Zu der Zeit lebten auf dem Bauernhof, der dem Anwesen angegliedert war, ein junger Knecht und eine hübsche Magd, die einander versprochen hatten, sobald sie sich von ihrem kärglichen Lohn genug gespart hätten, ein kleines Gut zu pachten. Aber der Lohn war zu gering, obwohl sie unermüdlich bis in die Nacht hinein arbeiteten, und so nahm Verzweiflung von den Liebenden Besitz.

"Ach", sagte der junge Knecht zu seiner Liebsten, "man hat mit Alice einen Schatz in die Erde verscharrt, der niemand etwas nützt, während ein einziger von diesen Juwelen für unser Glück ausreichen würde!" Und er seufzte laut, und seine Freundin weinte.

Wenn der Gedanke keinen vernünftigen Widerstand findet und das Herz ihn mit starken Wünschen trägt, dann unterliegt man ihm schließlich. Noch am selben Abend waren die beiden Liebenden an Alices Grab und raubten es aus. Beim Anblick der Reichtümer, die dort aufgehäuft waren, wuchs ihre Habgier. Ein einziges Schmuckstück befriedigte sie nicht mehr, wie auch Alice zu ihren Lebzeiten nur an vielen Genuß gefunden hatte, sie rissen alles an sich, wie es die reichen Adligen im Land ihnen täglich vormachten; und sie machten selbst nicht halt vor dem reichverzierten Seidenkleid, das der Toten als Leichentuch diente. Dann schlössen sie das Grab sorgfältig zu.

Einen Monat nach dieser Tat, die nach ihrer Hoffnung das Glück gründen sollte, waren die beiden nicht wiederzuerkennen. Bleich und abgezehrt gingen sie umher, mieden alle Feste und wiesen ihre Freunde ab. Bei jedem Wort, das man an sie richtete, wurden sie rot, und wenn man sich gar von der Verstorbenen unterhielt, wurden sie so verwirrt, daß es jedermann bemerkte, ohne indessen die Ursache verstehen zu können. Gewissensqualen und Schrecken folterten ihren Geist, und in jeder Nacht weckte sie ein Gespenst aus dem unruhigen Schlaf, das eine kalte Hand auf ihre Stirn legte, und eine Grabesstimme rief ihnen immer wieder zu:" Gib mir mein Sterbekleid wieder!"

Die junge Magd konnte die entsetzliche Angst endlich nicht mehr ertragen. Sie beschwor ihren Geliebten, die geraubten Schätze wieder zurückzutragen, und nach langem Zögern willigte er ein, ebenfalls zerrüttet von den Alpträumen.

In einer schwarzen, stürmischen Nacht begaben sich die beiden heimlich auf den Friedhof. Was sich dort zutrug - niemand hat es erfahren, niemand kann es wissen. Aber am anderen Tag konnten alle, die am Friedhof vorbeigingen, neben dem Grab den Hut des Knechtes, den Rosenkranz der Magd und die beiden Buchsbaumzweige sehen, die sie zum Schutz mitgenommen hatten. Das war alles.

Niemals hat man in der Gegend von Quinipily die beiden Menschen wiedergesehen, niemals hat man etwas von ihnen vernommen!

Quelle: französiche Volkssage "Alice de Quinipily". Herman Semmig, Fern von Paris, Leipzig o. J.