14. Alexander von Makedonien. (Ebendaher.)

Bruchstück.

Ein mächtiger König aus fernem Lande beschloss einst auszuziehen, um das ganze Land, welches unsere Grossväter bewohnten, sich zu unterwerfen. Darüber war grosse Bestürzung unter diesen, und sie fürchteten, von jenen unterjocht zu werden. Aber da war einer unter ihnen, der Alexander hiess und aus Makedonien stammte, welches Land jetzt die Türken inne haben: der war sehr tapfer und konnte Thaten vollbringen, die kein anderer zu vollbringen vermochte. Derselbe fasste den Beschluss, jenem fremden Könige sich entgegenzustellen. Die Alten erzählen, er sei König geworden, weil er sehr schön und sehr edel war. Dieser Alexander versammelte also in seinem Vaterlande lauter auserwählte Makedonier um sich und zog mit ihnen dem feindlichen Könige entgegen. Er besiegte ihn und befreite auf diese Weise unser Volk von der ihm drohenden Knechtschaft. Hierauf nahm er alle seine Länder in Besitz und fand hier so viel Reichthum und fruchtbaren Boden, dass er nicht wieder in sein Vaterland zurückkehrte. Seine Mutter verfluchte ihn deshalb, weil er sie verlassen hätte. Alexander hatte vorausgesehen, dass es so kommen würde. Allein es war sein Wunsch, immer weiter vorzudringen gen Sonnenaufgang, um die Enden der Erde aufzufinden. Auf seinem Zuge traf er mit vielen Völkern und vielen Königen zusammen, die er alle überwand. Und er zog immer weiter vorwärts und fand auch Menschen, welche Flügel und nur einen Fuss hatten; dieselben flogen in der Luft umher und frassen viele von seinen Kriegern. Aber Alexander fand ein Mittel aus, um auch diese Feinde zu besiegen. Als er noch weiter vorrückte, stiess er auf Menschen, welche Hundsköpfe hatten; dieselben waren sehr gefrässig und fügten dem Heere Alexanders grossen Schaden zu. Aber auch sie besiegte er. Hierauf kam er in das Reich eines mächtigen Königs, dessen Krieger nicht zu Fuss kämpften, sondern Thürme auf den Rücken gewisser Thiere errichtet hatten, welche zugleich mit den Thürmen auch noch viele Menschen zu tragen vermochten. Diese Leute kämpften sehr tapfer gegen Alexander, aber endlich überwand er sie ebenfalls. Nun marschirte er viele Tage lang, ohne einen Gegner mehr anzutreffen. Seine Soldaten baten ihn umzukehren. Da er indessen die Enden der Erde aufzufinden wünschte, so liess er seine Soldaten an einem Orte zurück und drang allein weiter. Nachdem er viele Tage lang gewandert war, kam er endlich an die Küste eines grossen Meeres und konnte nicht weiter vorwärts. Da dachte er sich, dass hier das Ende der Erde sein werde. Ermüdet wie er war, legte er sich nahe am Meere unter einem Baume nieder und schlief ein. Als er erwachte, erblickte er sich gegenüber eine herrliche Insel mit einem prächtigen Garten, darinnen Blumen, Bäume, bunte Vögel und alle Güter der Welt sich befanden. Sie war aber ringsum von sehr hohen ehernen Mauern umgeben, so dass niemand hingelangen konnte. Ein Weib, schön wie eine Neraïde, erschien vor ihm und sagte zu ihm, er möge nicht versuchen weiter zu dringen, denn das werde ihm das Leben kosten. Alexander fragte die Jungfrau, was das für eine starke Festung mit den ehernen Mauern drüben im Meere sei, und jene antwortete ihm: 'Das ist die Insel der Seligen. Auf ihr ist das Paradies, und kein Lebender kann dorthin eingehen, sondern nur ein Verstorbener, und auch dieser erst, nachdem ihn Gott für würdig befunden.' Alexander war betrübt hierüber und weinte, weil er, nachdem er die ganze Welt erobert, nicht auch ins Paradies eingehen könne, um auch die Abgeschiedenen zu sehen. Das Mädchen bedauerte ihn, dass ein so schöner Jüngling nicht zu erreichen vermöge, was er begehre, und sie sprach zu ihm: 'Ich kann dir ein Mittel angeben, damit du wenigstens einige der Verstorbenen sehest.' Sie zeigte ihm nun eine Gegend, wo sich eine Höhle befand, und sagte: 'Hole einige deiner Genossen und begib dich mit ihnen hinein in die Höhle, da wirst du einige der Verstorbenen sehen, doch nähern kannst du dich ihnen nicht.' Alexander ward durch diese Mittheilung zufrieden gestellt. Er kehrte also zu seinem Heere zurück, holte seine Getreusten ab und begab sich mit ihnen nach der Höhle. Als er in dieselbe eingetreten war, erblickte er jenen König, der gegen unser Vaterland hatte zu Felde ziehen wollen, nebst allen anderen von ihm Besiegten, an Ketten gefesselt. Sie jammerten alle und riethen dem Alexander, er möge sich hüten Böses zu thun, wie sie, damit er nicht Strafe erleide. Es war auch grosse Finsterniss in diesem Raume, und nur mit Fackeln hatte man ihn betreten können. Aus allem diesen erkannte Alexander, dass hier der Ort der Verdammten sei, und er empfand Mitleid mit ihnen. Da er nun seinen Zweck erreicht hatte, so gebot er seinen Genossen, die Höhle wieder zu verlassen. Im Herausgehen hoben sie Erde vom Boden auf, und als sie ans Tageslicht gekommen waren, bemerkten sie, dass es nicht Erde war, sondern lauteres Gold. Da ergriff Reue ebensowohl alle die, welche Erde aufgehoben, wie diejenigen, welche keine aufgehoben hatten, und zwar jene, weil sie nicht mehr aufgehoben hatten, und diese, weil sie gar keine aufgehoben hatten.

Quelle: Bernhard Schmidt, Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder. Leipzig 1877. S. 145 - 148.
(Nachdruck: Hildesheim, New York, 1978)