5. Die Neraïde. (Ebendaher.)

Es war einst ein sehr schöner Jüngling, und viele Mädchen bewarben sich um ihn. Allein er selbst hatte keine Lust eine von den Frauen dieser Welt zu nehmen, sondern er wünschte sich eine Neraïde. Und auch die Neraïden hatten ihn ihrerseits lieb und kamen oftmals und neckten ihn. Allein so oft er auch den Versuch machte sich einer von ihnen zu nähern, es gelang ihm doch nie. Da fragte er eines Tags eine alte, eine sehr alte Frau, wie er's anfangen solle, um eine von den Neraïden zum Weibe zu erhalten. Die Alte sagte ihm: 'Sobald die Neraïden herankommen, dich zu necken, und Worte an dich richten, so sieh zu, dass du einer von ihnen ihr Tuch wegnehmen kannst. Und ist es dein Wunsch, dass sie für immer bei dir bleibe und dir nie wieder entfliehe, so musst du das Tuch in den Backofen werfen und verbrennen. Aber freilich wird sie dann an dem Kummer hierüber sterben. Drum ist's besser, du verbirgst es. Aber habe ja Acht, dass sie dich nicht täusche und das Tuch dir entreisse. So wird sie dir folgen, wohin du auch gehen magst.' Als nun die Neraïden wieder einmal herankamen und den Jüngling neckten und Worte an ihn richteten, stürzte er rasch auf eine von ihnen zu; da entfiel dieser in dem Augenblicke, da sie sich in die Luft schwingen wollte, ihr Tuch, und er ergriff es und steckte es in seinen Busen. Nun bat ihn die Neraïde, ihr das Tuch wiederzugeben, und sprach zu ihm: 'Gib mir, Iannis, das Tuch, gib's mir, lieber, und ich thue alles, was du willst.' Allein der Jüngling ging darauf nicht ein und sagte ihr nur, dass er sie zur Frau nehmen wolle. Die übrigen Neraïden waren in die Luft geflogen und entflohen; sie aber vermochte nicht mehr zu fliegen und blieb beim Iannis. Der brachte sie nun in sein Haus, heirathete sie und erzeugte auch Kinder mit ihr. Aber sie war immer betrübt und kummervoll, und keine Festlichkeit und kein Feiertag konnte sie bewegen die Kleider zu wechseln und sich zu putzen oder sonst zu thun, wie die andren Frauen. Iannis, der den Kummer seines Weibes sah, bedauerte dasselbe; und eines Tags, 's war ein Festtag, da alle zum Tanze hinaus vor das Dorf zogen, wir wollen einmal sagen, nach Pisalónia, und die Neraïde unter Thränen von ihrem Manne das Tuch begehrte, drängte diesen das Mitleid, es ihr zu geben; nur fürchtete er, dass sie, wenn sie wieder im Besitze desselben wäre, ihm entfliehen möchte, und darum sagte er zu ihr: 'Ich geb's dir, auf dass du zum Tanze gehest, aber du musst mir versprechen, dass du nach Hause zurückkehren und nicht entfliehen willst; sonst bekommst du's nicht.' Sie versprach ihm das und fügte hinzu: 'Nunmehr werd' ich dich doch nicht verlassen, nach so vielen Jahren, und da ich Kinder von dir habe!' Und so erhielt sie denn ihr Tuch, und nun wusch sie sich, wechselte ihre Kleider und schmückte sich; und mit einem Male erglänzte das ganze Haus von ihrer Schönheit, denn als Neraïde übertraf sie ja an Schönheit jedes andre Weib. Hierauf begab sie sich zum Tanze, und da leuchtete der ganze Reigen, und alle geriethen in Bewegung über ihr Erscheinen. Sie aber machte die Vortänzerin und begann mit hoher, helltönender Stimme ein Lied zu singen, das die Steine zersprengte und aller Herzen mächtig ergriff. Und als sie dreimal im Kreise herumgetanzt, da wiegte sie sich und wand sich und schwenkte ihr Tuch, und mit dem Rufe 'Ho ho ho' schwang sie sich in die Lüfte und verschwand, indem sie zu ihren Gefährtinnen eilte. Und so war Iannis um sein Weib gekommen.

Quelle: Bernhard Schmidt, Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder. Leipzig 1877. S. 133 - 135.
(Nachdruck: Hildesheim, New York, 1978)