12. Die Räthselwette. (Ebendaher.)

Bruchstück.

Es war einst eine Königin unten bei Theben, die sass am Wege auf einem Felsen und gab allen, die dort vorüberkamen, drei Räthsel auf. Sie verkündete, dass sie denjenigen, der diese Räthsel zu lösen vermöchte, werde vorüberziehen lassen, ohne ihm etwas anzuhaben, ja dass sie bereit sei denselben zum Manne zu nehmen; wer sie aber nicht errathen könne, den werde sie fressen. Viele zogen dort vorbei, aber keiner vermochte die Räthsel zu lösen. Da hörte ein junger Prinz von dieser Königin, und weil dieselbe, wie es hiess, von hoher Schönheit war, so beschloss er an dem Felsen, auf welchem sie sass, vorüberzugehen, indem er hoffte ihre Hand gewinnen zu können. Sein Vater versuchte ihn zurückzuhalten, allein der Sohn hörte nicht auf ihn und machte sich zu jener Königin auf den Weg. Als diese den Ankömmling erblickte, sprach sie zu ihm: 'Ach, du Armer! Du bist ein so schöner Jüngling und willst dich ins Verderben stürzen? Kehre zurück zu deinem Vater! Schon so viele sind hier vorbeigekommen, aber keiner ist im Stande gewesen die Räthsel zu lösen. Wirst du sie errathen können?' Da entgegnete der Jüngling: 'Lass dich das nicht kümmern! Ich hoffe sie zu errathen.' Da sagte sie ihm das erste Räthsel. Dieses lautete: 'Welches ist das Ding, das, was es erzeugt, verzehrt? Es erzeugt seine Kinder und verzehrt sie wieder.' Da antwortete jener: 'Ei, Frau Königin, das ist ja sehr leicht zu errathen. Das ist das Meer: dieses verzehrt seine eigenen Kinder, denn aus dem Meere entstehen die Flüsse und ins Meer fallen sie zurück.' Da sprach die Königin: 'So ist's. Nun will ich dir das zweite Räthsel vorlegen.' Dasselbe lautete: 'Welches ist das Ding, das weiss und schwarz aussieht und nimmer altert?' - 'Ei,' sagte der Jüngling, 'auch dies ist nicht schwer. Das ist die Zeit. Diese sieht weiss und schwarz aus, denn sie ist nichts anderes als Tag und Nacht; diese altert auch nie, denn seit die Welt steht, ist sie, und wird sein bis an der Welt Ende.' - 'Richtig,' sagte die Königin. 'Aber jetzt will ich dir das dritte Räthsel vorlegen, das wirst du nicht zu lösen vermögen.' - 'Wir wollen sehen,' antwortete der Prinz; 'sag mir's nur.' Nun sagte sie ihm das dritte Räthsel, das also lautete: 'Welches ist das Ding, das Anfangs auf vier Beinen geht, dann auf zweien und zuletzt auf dreien?' Da sagte jener: 'Das ist das leichteste von allen. Das ist der Mensch. Wenn dieser klein ist und zu laufen anfängt, kriecht er auf allen Vieren; wird er grösser, so geht er auf seinen zwei Beinen, und wenn er ins Alter kommt und sich ohne Stütze nicht mehr aufrecht halten kann, so nimmt er einen Stab zu Hülfe und geht also nun auf drei Beinen einher.'

Quelle: Bernhard Schmidt, Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder. Leipzig 1877. S. 143 - 144.
(Nachdruck: Hildesheim, New York, 1978)