Das Oldenburger Horn
In dem Hause Oldenburg wurde sonst ein künstlich
und mit viel Zieraten gearbeitetes Trinkhorn sorgfältig bewahrt,
das sich aber gegenwärtig zu Kopenhagen befindet. Die Sage lautet
so: Im Jahr 990 (967) beherrschte Graf Otto das Land. Weil er als ein
guter Jäger große Lust am Jagen hatte, begab er sich am 20.
Juli gedachten Jahres mit vielen von seinen Edelleuten und Dienern auf
die Jagd und wollte zuvörderst in dem Walde, Bernefeuer genannt,
das Wild heimsuchen. Da nun der Graf selbst ein Reh hetzte und demselben
vom Bernefeuersholze bis an den Osenberg allein nachrannte, verlor er
sein ganzes Jagdgefolge aus Augen und Ohren, stand mit einem weißen
Pferde mitten auf dem Berge und sah sich nach seinen Winden um, konnte
aber auch nicht einmal einen lautenden (bellenden) Hund zu hören
bekommen. Hierauf sprach er bei ihm selber, denn es eine große Hitze
war: Ach Gott, wer nur einen kühlen Trunk Wassers hätte! Sobald,
als der Graf das Wort gesprochen, tat sich der Osenberg auf und kommt
aus der Kluft eine schöne Jungfrau, wohl gezieret, mit schönen
Kleidern angetan, auch schönen, über die Achsel geteilten Haaren
und einem Kränzlein darauf, und hatte ein köstlich silbern Geschirr,
so vergüldt war, in Gestalt eines Jägerhorns, wohl und gar künstlich
gemacht, in der Hand, das gefüllt war. Dieses Horn reichte sie dem
Grafen und bat, daß er daraus trinken wolle, sich zu erquicken.
Als nun solches vergüldtes silbern Horn der Graf
von der Jungfrau auf- und angenommen, den Deckel davongetan und hineingesehen:
da hat ihm der Trank, oder was darinnen gewesen, welches er geschüttelt,
nicht gefallen und deshalben solch Trinken der Jungfrau geweigert. Worauf
aber die Jungfrau gesprochen: »Mein lieber Herr, trinket nur auf
meinen Glauben! Denn es wird Euch keinen Schaden geben, sondern zum Besten
gereichen;« mit fernerer Anzeige, wo er, der Graf, draus trinken
wolle, sollt's ihm, Graf Otten und den Seinen, auch folgends dem ganzen
Hause Oldenburg wohlgehn und die Landschaft zunehmen und ein Gedeihen
haben. Da aber der Graf ihr keinen Glauben zustellen noch daraus trinken
würde, so sollte künftig im nachfolgenden gräflich-oldenburgischen
Geschlecht keine Einigkeit bleiben. Als aber der Graf auf solche Rede
keine acht gab, sondern bei ihm selber, wie nicht unbillig, ein groß
Bedenken machte, daraus zu trinken: hat er das silbern vergüldte
Horn in der Hand behalten und hinter sich geschwenket und ausgegossen,
davon etwas auf das weiße Pferd gespritzet; und wo es begossen und
naß worden, sind ihm die Haare abgangen. Da nun die Jungfrau solches
gesehen, hat sie ihr Horn wiederbegehret; aber der Graf hat mit dem Horn,
so er in der Hand hatte, vom Berge abgeeilet, und als er sich wieder umgesehn,
vermerkt, daß die Jungfrau wieder in den Berg gangen; und weil darüber
dem Grafen ein Schrecken ankommen, hat er sein Pferd zwischen die Sporn
genommen und im schnellen Lauf nach seinen Dienern geeilet und denselbigen,
was sich zugetragen, vermeldet, das silbern vergüldte Horn gezeiget
und also mit nach Oldenburg genommen. Und ist dasselbige, weil er's so
wunderbarlich bekommen, vor ein köstlich Kleinod von ihm und allen
folgenden regierenden Herren des Hauses gehalten worden.
Kommentar: Hamelmann: Oldenb. Chronik, 1595,
T. I, cap. 10.
Winkelmann: Oldenb. Chr. T. I, cap. 3.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 541