Das Schwanschiff am Rhein
Im Jahr 711 lebte Dietrichs, des Herzogen zu
Kleve, einzige Tochter Beatrix, ihr Vater war gestorben, und sie war Frau
über Kleve und viel Lande mehr. Zu einer Zeit saß diese Jungfrau
auf der Burg von Nimwegen, es war schön klar Wetter, sie schaute
in den Rhein und sah da ein wunderlich Ding. Ein weißer Schwan trieb
den Fluß abwärts, und am Halse hatte er eine goldne Kette.
An der Kette hing ein Schiffchen, das er fortzog, darin ein schöner
Mann saß. Er hatte ein goldnes Schwert in der Hand, ein Jagdhorn
um sich hängen und einen köstlichen Ring am Finger. Dieser Jüngling
trat aus dem Schifflein ans Land und hatte viel Worte mit der Jungfrau
und sagte, daß er ihr Land schirmen sollte und ihre Feinde vertreiben.
Dieser Jüngling behagte ihr so wohl, daß sie ihn liebgewann
und zum Manne nahm. Aber er sprach zu ihr: »Fraget mich nie nach
meinem Geschlecht und Herkommen; denn wo Ihr danach fraget, werdet Ihr
mein los sein und ledig und mich nimmer sehen.« Und er sagte ihr,
daß er Helias hieße; er war groß von Leibe, gleich einem
Riesen. Sie hatten nun mehrere Kinder miteinander. Nach einer Zeit aber,
so lag dieser Helias bei Nacht neben seiner Frau im Bette, und die Gräfin
fragte unachtsam und sprach: »Herr, solltet Ihr Euren Kindern nicht
sagen wollen, wo Ihr herstammet?« über das Wort verließ
er die Frau, sprang in das Schwanenschiff hinein und fuhr fort, wurde
auch nicht wieder gesehen. Die Frau grämte sich und starb aus Reue
noch das nämliche Jahr. Den Kindern aber soll er die drei Stücke,
Schwert, Horn und Ring, zurückgelassen haben. Seine Nachkommen sind
noch vorhanden, und im Schloß zu Kleve stehet ein hoher Turm, auf
dessen Gipfel ein Schwan sich drehet, genannt der Schwanturm, zum Andenken
der Begebenheit.
Kommentar: Helinandi
Chronicon, lib. IV. Vincent. bellovac. sp. hist. Gerhard von Schuiren.
Hopp: Beschr. v. Cleve, 1655, p. 148 - 150. Abel: Samml. alter Chroniken,
Braunschw. 1732, S. 54. Görres: Lohengrin LXXI - LXXIII.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 535