Die Felsenbrücke
Ein Hirt wollte abends spät seine Geliebte
besuchen, und der Weg führte ihn über die Visper, da, wo sie
in einer tiefen Felsenschlucht rauscht, worüber nur eine schmale
Bretterbrücke hängt. Da sah er, der Chiltbube, was ihm sonst
niemals widerfahren war, einen Haufen schwarze Kohlen mitten auf der Brücke
liegen, daß sie den Weg versperrten; ihm war dabei nicht recht zumute,
doch faßte er sich ein Herz und tat einen tüchtigen Sprung
über den tiefen Abgrund von dem einen Ende glücklich bis zu
dem andern. Der Teufel, der aus dem Dampf des zerstobenen Kohlenhaufens
auffuhr, rief ihm nach: »Das war dir geraten, denn wärst du
zurückgetreten, hätt ich dir den Hals umgedreht, und wärst
du auf die Kohlen getreten, so hättest du unter ihnen versinken und
in die Schlucht stürzen müssen.« Zum Glück hatte
der Hirt, trotz der Gedanken an seine Geliebte, nicht unterlassen, vor
dem Kapellchen der Mutter Gottes hinter St. Niklas, an dem er vorbeikam,
wie immer sein Ave zu beten.
Kommentar: Mündlich
aus Oberwallis.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 201