Die Jungfrau mit dem Bart
Zu Saalfeld mitten im Fluß steht eine Kirche,
zu welcher man durch eine Treppe von der nahe gelegenen Brücke eingeht,
worin aber nicht mehr gepredigt wird. An dieser Kirche ist als Beiwappen
oder Zeichen der Stadt in Stein ausgehauen eine gekreuzigte Nonne, vor
welcher ein Mann mit einer Geige kniet, der neben sich einen Pantoffel
liegen hat. Davon wird folgendes erzählt: Die Nonne war eine Königstochter
und lebte zu Saalfeld in einem Kloster. Wegen ihrer großen Schönheit
verliebte sich ein König in sie und wollte nicht nachlassen, bis
sie ihn zum Gemahl nähme. Sie blieb ihrem Gelübde treu und weigerte
sich beständig, als er aber immer von neuem in sie drang und sie
sich seiner nicht mehr zu erwehren wußte, bat sie endlich Gott,
daß er zu ihrer Rettung die Schönheit des Leibes von ihr nähme
und ihr Ungestaltheit verliehe; Gott erhörte die Bitte, und von Stund
an wuchs ihr ein langer, häßlicher Bart. Als der König
das sah, geriet er in Wut und ließ sie ans Kreuz schlagen.
Aber sie starb nicht gleich, sondern mußte in unbeschreiblichen
Schmerzen etliche Tage am Kreuze schmachten. Da kam in dieser Zeit aus
sonderlichem Mitleiden ein Spielmann, der ihr die Schmerzen lindern und
die Todesnot versüßen wollte. Der hub an und spielte auf seiner
Geige, so gut er vermochte, und als er nicht mehr stehen konnte vor Müdigkeit,
da kniete er nieder und ließ seine tröstliche Musik ohn Unterlaß
erschallen. Der heiligen Jungfrau aber gefiel das so gut, daß sie
ihm zum Lohn und Angedenken einen köstlichen, mit Gold und Edelstein
gestickten Pantoffel von dem einen Fuß herabfallen ließ.
Kommentar: Prätor.: Wünschelruthe,
S. 152 - 153, aus mündl. Erzählung.
Vgl. Kinder-
und Hausmärchen, II, 66.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 329