Heinrich der Löwe
Zu Braunschweig stehet aus Erz gegossen das Denkmal
eines Helden, zu dessen Füßen ein Löwe liegt; auch hängt
im Dom daselbst eines Greifen Klaue. Davon lautet folgende Sage: Vorzeiten
zog Herzog Heinrich, der edle Welf, nach Abenteuern aus. Als er in einem
Schiff das wilde Meer befuhr, erhub sich ein heftiger Sturm und verschlug
den Herzogen; lange Tage und Nächte irrte er, ohne Land zu finden.
Bald fing den Reisenden die Speise an auszugehen, und der Hunger quälte
sie schrecklich. In dieser Not wurde beschlossen, Lose in einen Hut zu
werfen; und wessen Los gezogen ward, der verlor das Leben und mußte
der andern Mannschaft mit seinem Fleische zur Nahrung dienen; willig unterwarfen
sich diese Unglücklichen und ließen sich für den geliebten
Herrn und ihre Gefährten schlachten. So wurden die übrigen eine
Zeitlang gefristet; doch schickte es die Vorsehung, daß niemals
des Herzogen Los herauskam. Aber das Elend wollte kein Ende nehmen; zuletzt
war bloß der Herzog mit einem einzigen Knecht noch auf dem ganzen
Schiffe lebendig, und der schreckliche Hunger hielt nicht stille. Da sprach
der Fürst: »Laß uns beide losen, und auf wen es fällt,
von dem speise sich der andere.« Über diese Zumutung erschrak
der treue Knecht, doch so dachte er, es würde ihn selbst betreffen,
und ließ es zu; siehe, da fiel das Los auf seinen edlen, liebwerten
Herrn, den jetzt der Diener töten sollte. Da sprach der Knecht: »Das
tu ich nimmermehr, und wenn alles verloren ist, so habe ich noch ein andres
ausgesonnen; ich will Euch in einen ledernen Sack einnähen, wartet
dann, was geschehen wird.« Der Herzog gab seinen Willen dazu; der
Knecht nahm die Haut eines Ochsen, den sie vordem auf dem Schiffe gespeist
hatten, wickelte den Herzogen darein und nähte sie zusammen; doch
hatte er sein Schwert neben ihn mit hineingesteckt. Nicht lange, so kam
der Vogel Greif geflogen, faßte den ledernen Sack in die Klauen
und trug ihn durch die Lüfte über das weite Meer bis in sein
Nest. Als der Vogel dies bewerkstelligt hatte, sann er auf einen neuen
Fang, ließ die Haut liegen und flog wieder aus. Mittlerweile faßte
Herzog Heinrich das Schwert und zerschnitt die Nähte des Sackes;
als die jungen Greifen den lebendigen Menschen erblickten, fielen sie
gierig und mit Geschrei über ihn her. Der teure Held wehrte sich
tapfer und schlug sie sämtlich zu Tode. Als er sich aus dieser Not
befreit sah, schnitt er eine Greifenklaue ab, die er zum Andenken mit
sich nahm, stieg aus dem Neste den hohen Baum hernieder und befand sich
in einem weiten, wilden Wald. In diesem Wald ging der Herzog eine gute
Weile fort; da sah er einen fürchterlichen Lindwurm wider einen Löwen
streiten, und der Löwe schwebte in großer Not, zu unterliegen.
Weil aber der Löwe insgemein für ein edles und treues Tier gehalten
wird und der Wurm für ein böses, giftiges, säumte Herzog
Heinrich nicht, sondern sprang dem Löwen mit seiner Hilfe bei. Der
Lindwurm schrie, daß es durch den Wald erscholl, und wehrte sich
lange Zeit; endlich gelang es dem Helden, ihn mit seinem guten Schwerte
zu töten. Hierauf nahte sich der Löwe, legte sich zu des Herzogs
Füßen neben den Schild auf den Boden und verließ ihn
nimmermehr von dieser Stunde an. Denn als der Herzog nach Verlauf einiger
Zeit, während welcher das treue Tier ihn mit gefangenem Hirsch und
Wild ernähret hatte, überlegte, wie er aus dieser Einöde
und der Gesellschaft des Löwen wieder unter die Menschen gelangen
könnte, baute er sich eine Horde aus zusammengelegtem Holz, mit Reis
durchflochten, und setzte sie aufs Meer. Als nun einmal der Löwe
in den Wald zu jagen gegangen war, bestieg Heinrich sein Fahrzeug und
stieß vom Ufer ab. Der Löwe aber, welcher zurückkehrte
und seinen Herrn nicht mehr fand, kam zum Gestade und erblickte ihn aus
weiter Ferne; alsbald sprang er in die Wogen und schwamm so lange, bis
er auf dem Floß bei dem Herzogen war, zu dessen Füßen
er sich ruhig niederlegte. Hierauf fuhren sie eine Zeitlang auf den Meereswellen,
bald überkam sie Hunger und Elend. Der Held betete und wachte, hatte
Tag und Nacht keine Ruh; da erschien ihm der böse Teufel und sprach:
»Herzog, ich bringe dir Botschaft; du schwebst hier in Pein und
Not auf dem offenen Meere, und daheim zu Braunschweig ist lauter Freude
und Hochzeit; heute an diesem Abend hält ein Fürst aus fremden
Landen Beilager mit deinem Weibe; denn die gesetzten sieben Jahre seit
deiner Ausfahrt sind verstrichen.« Traurig versetzte Heinrich, das
möge wahr sein, doch wolle er sich zu Gott lenken, der alles wohl
mache. »Du redest noch viel von Gott«, sprach der Versucher,
»der hilft dir nicht aus diesen Wasserwogen; ich aber will dich
noch heute zu deiner Gemahlin führen, wofern du mein sein willst.«
Sie hatten ein lang Gespräche, der Herr wollte sein Gelübde
gegen Gott, dem ewigen Licht, nicht brechen; da schlug ihm der Teufel
vor, er wolle ihn ohne Schaden samt dem Löwen noch heut abend auf
den Giersberg vor Braunschweig tragen und hinlegen, da solle er seiner
warten; finde er ihn nach der Zurückkunft schlafend, so sei er ihm
und seinem Reiche verfallen. Der Herzog, welcher von heißer Sehnsucht
nach seiner geliebten Gemahlin gequält wurde, ging dieses ein und
hoffte auf des Himmels Beistand wider alle Künste des Bösen.
Alsbald ergriff ihn der Teufel, führte ihn schnell durch die Lüfte
bis vor Braunschweig, legte ihn auf dem Giersberg nieder und rief: »Nun
wache, Herr! Ich kehre bald wieder.« Heinrich aber war aufs höchste
ermüdet, und der Schlaf setzte ihm mächtig zu. Nun fuhr der
Teufel zurück und wollte den Löwen, wie er verheißen hatte,
auch abholen; es währte nicht lange, so kam er mit dem treuen Tier
dahergeflogen. Als nun der Teufel, noch aus der Luft herunter, den Herzog
in Müdigkeit versenkt auf dem Giersberge ruhen sah, freute er sich
schon im voraus; allein der Löwe, der seinen Herrn für tot hielt,
hub laut zu schreien an, daß Heinrich in demselben Augenblicke erwachte.
Der böse Feind sah nun sein Spiel verloren und bereute es zu spät,
das wilde Tier herbeigeholt zu haben; er warf den Löwen aus der Luft
zu Boden, daß es krachte. Der Löwe kam glücklich auf den
Berg zu seinem Herrn, welcher Gott dankte und sich aufrichtete, um, weil
es Abend werden wollte, hinab in die Stadt Braunschweig zu gehen. Nach
der Burg war sein Gang, und der Löwe folgte ihm immer nach, großes
Getön scholl ihm entgegen. Er wollte in das Fürstenhaus treten,
da wiesen ihn die Diener zurück. »Was heißt das Getön
und Pfeifen?« rief Heinrich aus, »sollte doch wahr sein, was
mir der Teufel gesagt? Und ist ein fremder Herr in diesem Haus?«
- »Kein fremder«, antwortete man ihm, »denn er ist unsrer
gnädigen Frauen verlobt und bekommt heute das Braunschweiger Land.«
- »So bitte ich«, sagte der Herzog, »die Braut um einen
Trunk Weins, mein Herz ist mir ganz matt.« Da lief einer von den
Leuten hinauf zur Fürstin und hinterbrachte, daß ein fremder
Gast, dem ein Löwe mitfolge, um einen Trunk Wein bitten lasse. Die
Herzogin verwunderte sich, füllte ihm ein Geschirr mit Wein und sandte
es dem Pilgrim. »Wer magst du wohl sein«, sprach der Diener,
»daß du von diesem edlen Wein zu trinken begehrst, den man
allein der Herzogin einschenkt?« Der Pilgrim trank, nahm seinen
goldnen Ring und warf ihn in den Becher und hieß diesen der Braut
zurücktragen. Als sie den Ring erblickte, worauf des Herzogs Schild
und Name geschnitten war, erbleichte sie, stund eilends auf und trat an
die Zinne, um nach dem Fremdling zu schauen. Sie ward den Herrn inne,
der da mit dem Löwen saß; darauf ließ sie ihn in den
Saal entbieten und fragen, wie er zu dem Ringe gekommen wäre und
warum er ihn in den Becher gelegt hätte. »Von keinem hab ich
ihn bekommen, sondern ihn selbst genommen, es sind nun länger als
sieben Jahre; und den Ring hab ich hingeleget, wo er billig hingehört.«
Als man der Herzogin diese Antwort hinterbrachte, schaute sie den Fremden
an und fiel vor Freuden zur Erde, weil sie ihren geliebten Gemahl erkannte;
sie bot ihm ihre weiße Hand und hieß ihn willkommen. Da entstand
große Freude im ganzen Saal, Herzog Heinrich setzte sich zu seiner
Gemahlin an den Tisch; dem jungen Bräutigam aber wurde ein schönes
Fräulein aus Franken angetraut. Hierauf regierte Herzog Heinrich
lange und glücklich in seinem Reich; als er in hohem Alter verstarb,
legte sich der Löwe auf des Herrn Grab und wich nicht davon, bis
er auch verschied. Das Tier liegt auf der Burg begraben, und seiner Treue
zu Ehren wurde ihm eine Säule errichtet.
Kommentar: Nach dem
Volkslied.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 520