Rudolf von Strättlingen
König Rudolf von Burgund herrschte mächtig
zu Strättlingen auf der hohen Burg; er war gerecht und mild, baute
Kirchen weit und breit im Lande; aber zuletzt übernahm ihn der Stolz,
daß er meinte, niemand, selbst der Kaiser nicht, sei ihm an Macht
und Reichtum zu vergleichen. Da ließ ihn Gott der Herr sterben;
alsbald nahte sich der Teufel und wollte seine Seele empfangen; dreimal
hatte er schon die Seele ergriffen, aber St. Michael wehrte ihm. Und der
Teufel verlangte von Gott, daß des Königs Taten gewogen würden;
und wessen Schale dann schwerer sei, dem solle der Zuspruch geschehen.
Michael nahm die Waage und warf in die eine Schale, was Rudolf Gutes,
in die andere, was er Böses getan hatte; und wie die Schalen schwankten
und sachte die gute niederzog, wurde dem Teufel angst, daß seine
auffahre; und schnell klammerte er sich von unten dran fest, daß
sie schwer hinuntersank. Da rief Michael: »Wehe, der erste Zug geht
zum Gericht!« Drauf hebt er zum zweitenmal die Waage, und abermal
hängt sich Satan unten dran und machte seine Schale lastend. »Wehe«,
sprach der Engel, »der zweite Zug geht zum Gericht!« Und zum
drittenmal hob er und zögerte; da erblickte er die Krallen des Drachen
am schmalen Rand der Waagschale, die sie niederdrückten. Da zürnte
Michael und verfluchte den Teufel, daß er zur Hölle fuhr; langsam,
nach langem Streit hob sich die Schale des Guten um eines Haares Breite,
und des Königs Seele war gerettet.
Kommentar:
Chronik von Einingen und Strättlingen.
Wyß: Schweizersagen, S. 187 - 194.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 506