DAS ALMTIER

In früherer Zeit durfte es kein Mensch wagen, auf der Villanderer Alm zu übernachten. Vor dem Ave-Maria-Läuten machten sich Mäher und Mäherinnen nach Hause, denn das Almtier wurde von allen gleich gefürchtet und gemieden.

Einmal hatte ein Knecht, der Bartl hieß, sich das Herz gefaßt, in einer Schupfe zu übernachten und legte sich auf das Heu. Da kam aber in der Nacht das Ungetüm, zerriß den Schläfer in Stücke und warf sie aufs Dach der Hütte. Frühmorgens kamen die Mäher und riefen: "Bartl, Bartl!" Da hörten sie die Antwort: "Der Bartl ist auf dem Dach." Und als sie dort nachsahen, fanden sie die Stücke des Toten.

Nun wagte es lange Zeit niemand mehr, auf der Alm zu übernachten, denn das Schicksal des Bartl schreckte selbst die tüchtigsten Burschen ab. Endlich aber wagte es wieder ein herzhafter Knecht. Er nahm viele geweihte Sachen mit sich, hängte sich diese um und ließ sich in einen Heuschober einmachen. Die Leute belegten auch den Heustock ringsum mit Sensen. So verborgen und gefeit, lag nun der Knecht still da und wartete, was denn kommen werde.

Er wartete bis gegen Mitternacht. Da kam das Almtier, sprang zu wiederholten Malen gegen den Heuschober und rief:

"Au weh! Au weh!
Daher geh' i nie mehr.
I denk' die Villonderer Alp
neunmal Wies und neunmal Wald,
und den Schlern
wie In Nußkern,
und den Jochgrimm
wie a Messerkling.
Villanderer Alm hat gut's Wasser,
Seiser Alm gut's Gras.
Au weh! Au weh!
Daher geh' i nie mehr."

Und mit diesen Worten ging das Tier fort und war fortan verschwunden. Dem Knecht war kein Leid geschehen, und er mähte am andern Tage wieder lustig weiter. Seitdem können auch die Villanderer wieder ruhig in den Almschupfen übernachten. (Villanders.)

Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 404, S. 235