DER ERLÖSTE GEIST

Bei einem Unwetter kam ein Jäger noch spätabends auf die Saubacher Alm und nahm dort in der Sennhütte Unterstand und Nachtlager. Als er eine Weile geschlafen hatte, flog die Türe knarrend auf, daß er erwachte. Da sah er eine dunkle Gestalt zur Tür hereinkommen. Mutig nahm er die scharfgeladene Jagdflinte, spannte den Hahn und rief: "Pack dich fort, oder ich schieß!"

Der Geist kümmerte sich aber nicht um diese Drohung und trat näher. Da schoß der Jäger, doch die Kugel pfiff an dem Gespenste vorbei. "Was störst du mich in meinem Revier, kecker Jägersmann?" fragte nun mit hohler Stimme der Geist. Der Jäger antwortete, er habe vor dem Gewitter Schutz gesucht; der unheimliche Geselle solle gehen, sonst hetze er den Jagdhund auf ihn. Als der Geist sich nicht regte, hußte der Jäger den Hund auf ihn. Da lief der Geist schnell wie der Wind zur Tür hinaus, und bellend sprang der Hund nach. über eine Weile kam das treue Tier blutend und mit eingezogenem Schweife zurück, und bald darauf erschien auch der Geist an der Tür und blickte höhnisch hinein. Dies ärgerte den Jäger so, daß er die Flinte, die er inzwischen wieder geladen hatte, hernahm und abermals auf den Geist schoß.

Kaum aber war die Kugel ins dunkle Gewand gefahren, als der Geist blütenweiß wurde und fröhlich sprach: "Ich danke dir, daß du mich erlöst hast! Ich habe hier einen wider Willen, doch nicht ganz ohne Schuld, erschossen - und deshalb mußte ich so lange umgehen, bis jemand mich mit seiner Kugel traf." (Ritten.)

Quelle: Zingerle, Ignaz Vinzenz, Sagen aus Tirol, 2. Auflage, Innsbruck 1891, Nr. 421, S. 242