DIE DIRN AUF DEM FRIEDHOF

In Tschötsch bei Brixen spielten ein paar Bauern an einem Sonntag bis tief in die Nacht hinein. Zuletzt, als sie genug gespielt hatten, legten sie die Karten weg und erzählten sich Geistergeschichten. Es kam die Rede darauf, wer sich wohl jetzt - es ging schon gegen zwölf - auf den Friedhof getraue. Die Dirn, welche auch dabeisaß, fing an zu lachen, weil sich keiner getrauen wollte.

Da sagte der Bauer des Hofes, bei dem sie auf Heimgart waren, zur Dirn: "Du, wenn du jetzt gleich hinausgehst und das Totenkreuz meines verstorbenen Weibes hereinbringst, sollst du ein Star Nüsse haben." Die Magd ging auf den Handel ein und begab sich auf den Friedhof. Bald kehrte sie mit dem verlangten Kreuz zurück. Der Bauer lobte sie ihres Mutes wegen, versprach ihr aber gleich ein zweites Star Nüsse dazu, wenn sie abermals auf den Friedhof gehe und das Kreuz wieder ins Grab stecke.

Die Dirn tat es, kam aber nicht mehr zurück. Durch ihr langes Ausbleiben in Angst versetzt, gingen die Bauern allesamt hinaus, um nach ihr zu sehen, und fanden sie bewußtlos am Grabe liegen. Die Dirn hatte nämlich im Dunkel der Nacht mit dem Kreuz den untern Teil ihres Kittels in das Loch gesteckt, und als sie davongehen wollte, war es ihr, als ob sie jemand am Rock hielte. Dadurch wurde sie dermaßen vom Schrecken befallen, daß sie von Sinnen kam und hinfiel. Die Bauern trugen sie heim, aber das Fieber verließ sie nicht mehr, und sie mußte bald darauf sterben.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 144