DIE MUTTERGOTTES AUF DEM FREIENBÜHEL

Der Obereggenbauer in Afers war gar fromm und hielt die Muttergottes in hohen Ehren. Und jeden Abend, wenn die Sonne zur Rüste gegangen war, hörte er ober seinem Hof auf dem Berg von einem silberhellen Glöcklein Ave-Maria läuten, er mochte daheim sein oder auf dem Felde. Wenn er auf dem Felde arbeitete und das Glöcklein vernahm, machte er sogleich Feierabend, lief heim und betete. Daher gedieh ihm alles aufs beste und bog sich der Scheunenboden unter seinen Garben. Einmal, am Abend vor dem Hohen Frauentag, läutete es wieder oben. Der Bauer war mit den Garben schon vor dem Stadeltor und - "die müssen noch hinein!" sagte er, und "dafür bet' ich heute doppelt" und fuhr mit den Garben ein.

Dann betete er wohl schleunig den Englischen Gruß und ließ die Arbeit. Aber das Glöcklein oben tat kein drittes Gesätzlein mehr und ließ sich seitdem auch nie wieder hören. Der Bauer empfand bittere Reue, daß er die Arbeit nicht sogleich eingestellt hatte, und es tat ihm weh um das helle Glöcklein, das er so gern gehört hatte. Zur Sühne baute der Obereggener eine Kapelle oben auf dem Freienbühel, stellte ein Muttergottesbild hinein und hängte ein Glöcklein darüber, mit dem künftig er selber Feierabend läutete.

Allsbald wurde der Freienbühel ein Wallfahrtsort, von dem die Brixner auch ihre kleinen Kinder holen. Wenn man eines hinter dem Altar schreien hört, muß man es gleich nehmen.

Als im Dezember 1809 die Franzosen den St.-Andräer-Berg stürmten, die Häuser der Bauern anzuschüren, da war gerade eine fromme Bauerndirn auf dem Weg zum Freienbühel hinauf. Es war ein wenig frischer Schnee gefallen. Oben, bei der letzten Station, sah die Dirn ein wunderschönes, schneeweißes Lämmlein, das an einen Baum gebunden war. Sie wundert sich, geht ganz hinauf und in die Kapelle, wo sie eine Zeit betet. Als sie wieder bergab geht, ist das Lämmlein verschwunden. Die Franzosen aber sind nicht weit gekommen. Durch die Fürbitte der Muttergottes auf dem Freienbühel ist es nämlich geschehen, daß sie die Bäume des Waldes für lauter Tirolerschützen ansahen, die in hellen Haufen herabrückten, ihnen entgegen. Vor einer solchen übermacht zogen sich die Franzosen schleunig zurück und ließen den Berg in Ruhe. Aus Dankbarkeit bauten die Bauern auf dem Freienbühel die jetzige Kirche.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 116 f.